Zu einem Leben im christlichen Glauben gehören nach Martin Luther das Hören auf das Wort Gottes (meditatio) und das Gebet (oratio). Die biblischen Propheten des alten Israel geben uns dafür wichtige Beispiele. Das heutige Predigtwort erinnert uns an den Propheten Elia. Er trat im 9. Jahrhundert v. Chr. auf und gehört zu den bedeutensten Persönlichkeiten in der Geschichte der biblischen Prophetie. Zum Hören auf Gottes Wort und zum Beten brauchte er wie andere von Zeit zu Zeit besondere Orte, die ihm halfen, sich zu besinnen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, gleichsam auf die innere Stimme zu hören, sich für Gott zu öffnen und die Verbindung mit ihm zu suchen. Ein solcher Ort der Gottesbegegnung konnte ein Platz in der Wüste sein oder ein Berg; in der Eliageschichte ist es der Berg Horeb, auch Sinai genannt. Weil er für viele Menschen damals ein Ort der Gotteserfahrung war, wurde er in der Glaubensgeschichte sogar zum Gottesberg. Bis heute üben Berge eine Faszination auf uns aus: da ist das Erlebnis der Höhe, des tiefblauen Himmels, die Möglichkeit weit umher zu blicken, das Gefühl, dem manchmal engen Lebensalltag für eine Weile fern zu sein. Daher ist es zu verstehen, warum gerade Berge zu besonderen Orten von Wallfahrten wurden. Der zurückzulegende Weg dorthin war mehr ein innerer Weg zur Mitte, zur Lebensmitte, zu Gott hin.
“Hören auf Gottes Wort und Beten”, dies ist es, was nach Martin Luther zum Christsein gehört, und er fügt noch ein drittes Kennzeichen hinzu: die Anfechtung (tentatio) um Gottes und des Glaubens willen. Auf Gottes Wort zu hören, dafür können wir uns entscheiden wie auch für das Gebet – für die Anfechtung nicht, wir suchen sie nicht, sie kommt ungerufen. Eigenartig, warum ausgerechnet sie zum Kennzeichen des gelebten Glaubens gehören soll. Bekommen wir in der Eliageschichte darauf eine Antwort? Diese Geschichte gibt uns einen Einblick in die innere Verfassung des Propheten. Diese kann kaum treffender als mit dem Wort “Anfechtung” umschrieben werden: Elia ist resigniert und verzweifelt, er hat allen Mut verloren, und verloren glaubte er seinen Eifer für sein Volk, als es sich von Gott abwandte. Hinzu kam noch, dass Isebel, die Frau des israelitischen Königs Ahab, dem Propheten im Zuge von blutigen Religionsstreitigkeiten nach dem Leben trachtete.
Der Verfasser der Eliageschichte bringt zwischen den Zeilen in Auseinandersetzung mit dem Gottes- und Prophetenbild zum Ausdruck, dass Fanatismus und Gewalt im Namen Gottes Gott keineswegs die Ehre geben und ihm gefallen. So wurde die Wallfahrt Elias zum Gottesberg zu einem Fluchtweg, um das nackte Leben zu retten. Das im tiefen Süden gelegene Beerseba hatte er bereits erreicht. Bis zum Horeb war es nicht mehr weit. Da sinkt er unter einem Wacholder müde und erschöpft nieder. Die Mutlosigkeit holt ihn ein: “Es ist genug”, klagt er und bittet Gott, sterben zu können. Im hebräischen Bibeltext ist diese Klage nur ein einziges Wort: “raw”.
Wie menschlich nahe kommt uns damit der Prophet. Kennen wir nicht auch dieses Gefühl: Bettdecke über den Kopf und nur noch schlafen? Seine empfundene Erfolglosigkeit als Prophet begründet Elia mit den Worten: “Ich bin nicht besser als meine Väter”. Er sieht nur noch sein Versagen und möchte von seinem Schlaf nicht mehr aufwachen. Mir kam bei der Predigtvorbereitung die sechste Bitte des Vaterunsers in den Sinn: “und führe uns nicht in Versuchung”, so lehrt uns Jesus von Nazareth zu beten; es ist auch die Bitte, Gott möge uns nicht in der Anfechtung versinken, untergehen lassen. Elia schien in der Anfechtung zu versinken, an sein Ende gekommen zu sein – aus sein Lebenstraum, und seine Vision zerplatzt wie eine Seifenblase.
Da geschieht, womit er nicht rechnete: “Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss!” Ein auf Glühsteinen gebackener Brotfladen und eine Flasche mit Wasser waren auf einmal in greifbarer Nähe. Aber was Elia stärken und aufmuntern sollte, hielt nicht lange vor: “als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen”. Doch Gott lässt ihn nicht in der Anfechtung versinken: “Der Engel Gottes kam zum zweitenmal wieder und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir”. Und wir hören: “Elia stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb”.
In der tiefsten Anfechtung kommt Elia die Kraft zu, die er zum Weitergehen braucht. Sie kommt von Gott. Das ist ein Hoffnungszeichen. Liebe Gemeinde, Gott hat auch in unserer Zeit und für unser Leben seine Boten. Sie kommen und sind an unserer Seite, wenn wir sie nicht vermuten, und sie gehen, ohne dass wir es merken. Darum tut es uns gut, uns an Zeiten unverhoffter Hilfe zu erinnern. War es ein Mensch, der uns berührte oder uns unsanft anstieß (wie der hebräische Bibeltext übersetzt werden könnte), ein Mensch, der uns Mut machte, uns unser Selbstvertrauen und unsere Aufgabe wieder finden ließ? War es ein Engel, war es Gott? In der Bibel hören wir: Gott ist alles in allem. Darum wirkt Gott auch durch Menschen. Und sagen oder denken wir dann, wenn ein Mensch gerade zur rechten Zeit zur Stelle ist, nicht: Du bist ein Engel?
“Steh auf und iss” – dieser Aufruf kann für uns bedeuten: dem guten Zureden eines anderen Menschen Vertrauen schenken, sich helfen lassen, Gott glauben, ihm vertrauen, auf ihn ausgerichtet sein, wozu uns der Sonntagsname Oculi einlädt: “Meine Augen sehen stets auf Gott…” Und die Begründung: “Denn du hast einen weiten Weg vor dir” kann für uns heißen: Du wirst noch gebraucht, du hast noch eine Aufgabe (zu erfüllen), dein Lebensziel hast du noch vor dir. Warum die Anfechtung – wie Martin Luther meinte – zum christlichen Glauben gehört? Weil sie uns mit den Gottsuchenden und mit Gott Lebenden verbindet und die Geschichte ihrer Anfechtung immer auch eine Geschichte der Hoffnung, eine Mutmachgeschichte ist. Sei deine Lebenssituation im Augenblick noch so schwierig und scheint sie dir ausweglos zu sein, wenn dir alles zu viel ist: Steh auf und iss, denn du hast einen (weiten) Weg vor dir.