Buchbesprechung der Predigten von Manfred Wussow „Auf freiem Fuß“ (2008)
Predigten sollten den Hörer/die Hörerin wie auch den Prediger/die Predigerin „einen freien Fuß (schenken)“ – so formuliert im Vorwort, d.h. sie sollten zu freiem Gehen und (Ver-) Stehen ermutigen. Zum festen „Denkmal“ eignen sich weder die biblischen Texte noch die vorgelegten Predigten. Und Wussow wünscht sich ein kritisches Auge der Rezipienten – was er „leider viel zu selten“ erlebt!
Was ist nun das Besondere an den vorgelegten Predigten, die der Autor – er ist Gemeindepfarrer in Aachen – aus einem Zeitraum von fünf Jahren (2003-2008) gesammelt hat und bei denen es sich um eine Auswahl seiner sukzessiv im Heidelberger Predigt-Forum (www.predigtforum.de) veröffentlichten Predigten handelt. Was zunächst besticht, ist die Fähigkeit von Wussow, sich auf Thomas Mannsche Art mit den biblischen Personen, Zeiten und Situationen zu identifizieren: „Ich stelle mir vor, wie der Brief, den Paulus schreibt, in Korinth ankommt …“ (115). Aber auch mit den Emmausjüngern kann er mitgehen (144). Oder bei Mose in der Wüste weilen: „Ich möchte Mose nicht allein lassen“ (70). Der Autor ist ganz assoziiert. Doch vermag er die eigenen Fragen und Probleme einzubringen und auf Antwort und Lösung zu hoffen?
Die Kunst ist ein wichtiges Reservoir für die Auslegung der biblischen Texte. Und so bringt er viele Bilder und Kunstwerke aus der Kunstgeschichte in seine Predigten ein. Manchmal unterstreichen sie die biblische Aussage (55ff); manchmal führt die Bildbetrachtung zu einem Dialog der dargestellten Personen (98ff); manchmal werden die Bilder (aus der Zeitung) zu einer Meditation der Zeitgeschichte (81ff).
Beeindruckend auch die Versuche, Schauspiel, Rollenspiel, Anspiel in den Gottesdienst zu integrieren, wenn es ums Geld geht (242ff) oder um die Liebe (182ff) oder um den Rangstreit der Jünger (116ff).
Und immer wieder nimmt Wussow Lieder und Liedtexte in die Predigt mit hinein. So will er z.B. mit Kirchenliedern „den Christen in Kolossä“ nahe kommen (155). Beeindruckend die Predigt zum 100. Geburtstag von Jochen Klepper, in der er fast textkritisch mit den Wörtern von Klepper umgeht, um ihn der Gemeinde nahezubringen (288ff).
Ebenso ist Lyrik für den Autor ein essentieller Bestandteil seiner Predigten. Er stellt sie neben biblische Texte, lässt sie konkurrieren, herausfordern: „Paulus und Gerhardt in einer Talkshow – das wärs“ (164). Und dann oft die Frage nach der eigenen Betroffenheit: „Ob es mir gelingt, meine Biographie in diesen (biblischen; Anm.) Worten zu entdecken oder unterzubringen?“ (165)
Das ist und bleibt sein Anliegen: Wie und wo kann ich mich einbringen in diese Welt der biblischen Botschaft, so dass die Texte ein „Steinbruch“ bleiben und nicht zu einem unerreichbaren „Denkmal“ werden. Er versucht, den „garstigen Graben der Geschichte“ (Lessing) zu überbrücken. Er versucht, die Sinne der Gottesdienstbesucher auf vielfältige Weise anzusprechen. Dazu sucht er im Internet nach geeigneten Materialien – und wird fündig. Diese Experimentierfreude des Autors ist ansteckend! Und man wünscht sich einen Fortsetzungsband der Predigten.
Christoph Kühne