Eugen Drewermann, Das Lukas-Evangelium, Bd. 1+2, Düsseldorf 2009
Will man Eugen Drewermann besprechen, hat man mit zwei Dingen zu tun: einmal mit hunderten wenn nicht tausenden von Seiten und zum Andern mit spannenden und anregenden Gedanken. So auch bei dem neuen Opus “Das Lukas-Evangelium
“, das in zwei Bänden (Band 1, Band 2
) mit insgesamt über 2000 Seiten erschienen ist. Ich will mich im Folgenden dem Werk nähern, indem ich das Vorwort zum 1. Band, die Überleitung zum 2. Band sowie das Nachwort lese – außerdem beispielhaft eine Auslegung herausgreife und möchte herausfinden, was das Ziel des “Lukas-Evangeliums” ist und wen er anspricht.
Programmatisch verheißt das Präskript im 1. Band: “nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich” (Sören Kierkegaard), womit schon etwas von dem Ziel des Drewermannschen Werkes angekündigt ist: Die Lukasauslegung soll den Leser persönlich betreffen. Das bringt dann auch das Vorwort zum 1. Band zum Ausdruck: es sei einerseits unerlässlich, die Botschaft des lukanischen Doppelwerks zu existentialisieren: sie soll zum Herzen sprechen; und dann – eine Dimension tiefer – geht es um die Erlösung “unserer in Ängsten und Aggressionen aller Art gefangenen Existenz” (1. Bd. 19). Denn nur so kann unser Herz zu Gedanken und Gefühlen geleitet werden, “auf die wir nie sonst gekommen wären” (1. Bd. 20).
Dass die Reise nach innen geht, finden wir auch im Präskript zum 2. Band, in dem von der Sehnsucht gesprochen wird, keine Heimat in der Zeit zu haben, vielmehr dem Ewigen entgegen zu schweigen (Rainer Maria Rilke). Und wie in einer psychotherapeutischen Behandlung geht es dem Autor darum, die Menschen zu begleiten, “dass sie zu sich selber finden …, dass sie es lernen, Gott in ihrem Herzen wieder zu vernehmen” (2. Bd. 13). Denn so können sie “die urzeitliche Furcht vor Gott umwandeln in ein tragendes Gefühl von kindlicher Geborgenheit” (2. Bd. 13). Und jetzt sind wir dem Ziel des Werkes schon näher: es gilt einen “neuen Weg zur Freiheit, jenseits von Angst, Abhängigkeit und Zwang, und eine Neubegründung unseres Daseins, jenseits von Opferkult, Magie und Aberglaube” (2. Bd. 14). Man meint hier den Psychotherapeuten zu hören, der darüber hinaus den Patienten zur Mündigkeit verhelfen will – gegen die “etablierten Angstverwalter in Synagoge und Senat, in Kirche wie in Kabinett” (2. Bd. 14). Hier haben wir bereits einen Hinweis auf die Adressatenschaft des “Lukas-Evangeliums”!
Diese Verwahrung gegen “Verkirchlichung und “Verrechtlichung” der Jesus-Botschaft finden wir auch im Nachwort (im 2. Band). Drewermann wehrt sich gegen eine Kirche oder auch ein kirchliches Diktum etwa des Papstes, wenn dieser meine, die biblischen Texte lägen “in der Obhut der Kirche, um den Glauben zu nähren” (2. Bd. 1025). Hier wird die Kontrastellung Drewermanns gegen die (katholische) Kirche sichtbar! Nein, nicht der Kirche, sondern den “Gefangenen” und “Kranken” schenkt ER “durch seine bedingungslose Güte allererst die Voraussetzung …, “gut” in moralischem Sinne zu sein” (2. Bd. 1020). Das bedeutet eine grundsätzliche Kehrtwendung von einer “zwangsneurotischen Psychologie des Religiösen” (2. Bd. 1020), wie noch Johannes der Täufer gepredigt hatte. Und weil Drewermann an dem Täufer als dem letzten Propheten deutlich macht, was “alttestamentlich” und an Jesus, was “neutestamentlich” ist, soll im Folgenden seine Auslegung zu Luk 3,1-14 folgen.
Drewermann titelt seine Ausführungen mit “Die Predigt des Johannes oder: Die Moral in ihrer Krise”. Er führt zu Beginn aus, dass die Jesusgeschichte zwar in der Kontinuität der Geschichte steht, dass aber Jesus dem “Weiter so!” des historischen Flusses in die Parade fährt: ein Neuanfang ist not-wendig! Und die Person, die dafür steht, ist Johannes der Täufer – ein Prophet aus alttestamentlichem Schrot und Korn. Wie die alten Propheten will auch Johannes die Leute, die zu ihm kommen, reizen und zwingen, “von all den Verirrungen im “Kulturland” zurückzukehren” (1.Bd. 169) in die Wüste, der “Sphäre jenseits der geschwätzigen Ablenkung bewohnter Stätten”, wo man nur sagen darf, “was stimmt, nur äußern, was nötig, nur mitteilen, was notwendig ist. “Kehrt um” ist eine erste Aufforderung zu solcher Sterneneinsamkeit und inneren Wahrhaftigkeit” (1. Bd. 170), die der Täufer seinen Zuhörern entgegenruft.
Was ist daran falsch? Drewermann referiert mit Anna Freud die Erfahrung, dass die meisten Menschen kein Gewissen im eigentlichen Sinne besitzen, sondern dass sie vielmehr – von sozialer Angst getrieben – die Spielregeln ihrer Bezugsgruppe halten. Johannes bleibt “bei allem, was er an Richtigem sagt, noch innerhalb der moralisierenden Äußerlichkeit” (1. Bd. 180). Anamnese und Diagnose sind – wie bei allen großen Moralisten in der Weltgeschichte – richtig. Aber sie übersehen “die Ursachenkette in der Tiefe des menschlichen Herzens ebenso wie deren Verflechtung mit all den anderen Ebenen der geschichtlichen Wirklichkeit” (1. Bd. 186). Heilung kann nicht durch Druck oder Gesetz erfolgen sondern nur durch “unbedingte Güte” (1. Bd. 187), wie sie Jesus predigen und verkörpern wird. “Dass später auch und gerade die Botschaft Jesu von der grenzenlosen Güte Gottes Widerstände auf den Plan rufen wird, steht auf einem anderen Blatt: Wer akzeptiert schon “gern” die “Diagnose” einer radikalen Bedürftigkeit und einer notwendigen Gnade als Voraussetzung für ein richtiges Leben vor Gott?” (1. Bd. 187) – Anklänge an die reformatorische “Entdeckung” Martin Luthers.
Wir halten nach diesem Exkurs als Ziel des “Lukas-Evangeliums” fest, dass unbedingte Güte einen Menschen zu wandeln vermag – und gleichzeitig dadurch zum Affront wird für die herrschenden Institutionen. In seinem Nachwort fordert Drewermann darüber hinaus, “eine Religionsform zu überwinden, in welcher die Gottheit selbst die “dämonischen” Züge einer kollektiven Neurose angenommen hat” (2. Bd. 1023). Wenn “Jesus einer Vielzahl von Menschen “wesentlich” wird” (2. Bd. 1024), dann habe das Buch sein Ziel erreicht. Wir erkennen auch hier wieder ein “ad fontes” und damit weg von “jeder kirchengelenkten Form von Exegese” (2. Bd. 1024). Hören wir auch hier nicht wieder reformatorische Töne, dass jeder Christ fähig ist, die Bibel ohne “fremde” kirchliche Auslegung lesen und verstehen zu können?
Drewermann beschießt sein Werk mit “Jesu Grundhaltung des Heilens und Teilens … (als) Form menschlichen Miteinanders jenseits der Machtmittel von Herrschaft und Gewalt ” (Bd. 2 1027). Christlicher Urkommunismus? Jedenfalls Ermutigung an den Einzelnen, das Wort Gottes zu lesen und zu leben; nicht bei Anamnese und Diagnose dieser “schlechten Welt” stehenzubleiben, sondern mit “unbedingter Güte” für Wandlung einzustehen – und damit heilsam zu sein für die Menschen. Also Abschied von den Institutionen, die heute in allen Bereichen zerbröckeln, damit Neues entstehen kann. “Eben deshalb ist die Lektüre des Lukas-Evangeliums das rechte Medikament auch dafür, das “Kirchen”-“Christentum” der Christenheit von der Infektion ihres Selbstbetruges zu befreien” (2. Bd. 1027).
Die Kirche macht tatsächlich derzeit eine gewaltige Rosskur durch. Wird sie sich erneuern? Kann sie sich ändern? Drewermann hat mit seinem Austritt aus der katholischen Kirche eine Antwort gegeben. Der Leser wird sich sein eigenes Bild machen und zu einer eigenen Entscheidung finden. Viele sind auf der Suche, geistlich heimatlos, manche auf den Spuren Jesu. Manchmal entstehen ganz neue Begegnungen und Gemeinschaften im Namen Jesu …
Christoph Kühne
cue.kuehne@gmx.de
Als Drewermann-Fan möchte ich die treffliche und verständige Reszension von Pastor Kühne nachdrücklich unterstützen. Sie motiviert zum Lesen des Lukas-Kommentars. Kühne stellt heraus: Sehr nachhaltig geht es “um die Erlösung unserer in Ängsten aller Art gefangenen Existenz”. Inzwischen ist ja dazu das neue Buch erschienen von Dr. Mathias Beier, der die ganz Botschaft Drewermanns durch den Buchtitel auf das Thema konzentriert : “Religion ohne Angst”. Nach Kühne führt uns der Lukas-Kommentar “auf eine Reise nach innen”, um Jesus wieder im Evangelium neu zu entdecken. Fragwürdig m.E. Drewermanns Behauptung: “Niemals hätte aus der Theologie eine Christologie werden dürfen” (S.269). Davon abgesehen bin ich froh, dass jetzt alle vier Evngelien von Drewermann kommentiert worden sind und Worte und Taten Jesu durch ihn neu lebendig werden.