Die Wirklichkeit als Bild
Christoph Kühne bespricht hier das Buch von Peter Lampe: Die Wirklichkeit als Bild (2006). Obwohl es bereits vor acht Jahren erschien, ist es nach wie vor aktuell. Leider ist das Buch zZt vergriffen, ein Weg in eine Bibliothek lohnt sich.
Der Untertitel des Buches suggeriert wenig Aufregendes: „Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie“. Hier sollen Fachleute angesprochen werden oder neugierige Laien: Die Latte ist hoch aufgelegt! Dies ändert sich nur unwesentlich, wenn der Leser mit der Einleitung die „Problemanzeige“ liest.
Es solle in dem Buch um die wichtige Frage gehen: Was ist Wirklichkeit? Der Philosoph ist angesprochen. Oder die philosophisch gelehrte Theologin. Doch das ändert sich bald. Der Leser wird in einen atemberaubenden Diskurs hineingezogen. Philosophisches Grundwissen wird aufgefrischt und vertieft. Und dann eine erste ernüchternde Konsequenz: Wir können die Dinge nicht erkennen, wie sie sind. „Die Dinge sind mehr oder weniger so, wie die Menschen sie wahrnehmen“ (19). Und wie nehmen wir die Dinge wahr? Um diese Frage zu beantworten, führt uns der Ordinarius für Neutestamentliche Theologie in Heidelberg, Peter Lampe, in das Reich der Soziologie. Genauer gesagt: in ein Jugendlager in der Oberpfalz. Zu einem zweiwöchigen Feldexperiment mitten in der Natur mit 28 zehn- bis zwölfjährigen Kindern aus Berlin-Kreuzberg. In den 80er Jahren. Völlig normale Kinder werden das Jungendlager verlassen mit einer neuen Erfahrung der Wirklichkeit: Z.B. kann man durch Träume Wasseradern in der Erde beeinflussen, oder man kann bei vollem Bewusstsein in einen Traum und seine Landschaft hineingehen (71). In der Studie, die P. Lampe zugrundelegt, wird deutlich, wie mithilfe soziologischer Kategorien „Wirklichkeit“ und wie sie wahrgenommen werden kann, erklärt wird. So beeinflussten drei typische „Evidenzquellen“ die Wirklichkeit bzw. die Konstruktion der Wirklichkeit (73ff): die erste war das sinnliche Wahrnehmen, wobei angebotene Wahrnehmungskategorien mit sinnlicher Wahrnehmung verknüpft wurden. Die zweite Evidenzquelle war die kognitive Konstruktion: verschiedene Wissenselemente wurden von den Kindern miteinander verknüpft, sodass eine neue „Wirklichkeit“ entstehen konnte. Und die dritte Evidenzquelle ist die soziale Bestätigung: das Urteil der Anderen, insbesondere von Experten, sichert die „Wirklichkeit“. Eine weitere Evidenzquelle stellt mit dem emotionalen Erleben z.B. von Symbolen die Existenz der jeweilig konstruierten Wirklichkeit sicher. „Wirklichkeitskonstruktion „kann verstanden werden als fortlaufender Prozess der Sinnherstellung; … ,Forschen‘ erscheint dann als fortlaufender Prozess der Differenzierung von Sinnzusammenhängen“ (83) – so ein Fazit des Autors.
Die ersten 100 Seiten des Buches sind eine spannende philosophische, soziologische, neurologische und psychologische Grundlegung für die zweiten 100 Seiten „Applikation des Modells auf urchristliche Beispiele – Die neue Wirklichkeit der Urchristen“, die man sich sich jetzt nicht mehr entgehen lassen will. Besonders als Theologin und Pfarrer. Viel Spaß beim Lesen!
Christoph Kühne, Lübeck