Buchhinweis von Dr. Gerhard Maier
Birgit Heiderich: Sterben hat seine Zeit. Ein Buch vom Abschied, Verl. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2014,gebunden,155 S.,18 €, ISBN-10: 3863510755, ISBN-13: 978-3863510756
Täglich sterben (viele) Menschen. Jedes Jahr erscheinen (einige) Bücher zu den Themen Sterben und Tod., im Februar 2014 das hier anzuzeigende. Verlegt wird es in dem Theologen und Pfarrern eher unbekannten Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer. Verfasst wurde dieses neue Buch von der 1947 geborenen alleinstehenden Freiburger Grundschullehrerin Birgit Heiderich, die jetzt im Ruhestand lebt. Sie war Mitglied der `Gruppe 547´ um Walter Jens. Es ist nicht ihr erstes Buch; das war schon 1980 erschienen. Sie ist also eine etablierte Autorin. Bald nach Erscheinen von „Sterben hat seine Zeit“ wurden Autorin und ihr Werk allseits hoch gelobt. Auf dem daraufhin aktualisierten Umschlageinband (U 4) steht unter anderem Martin Walsers Äußerung: „Das ist ein wunderbares Buch!“ Leicht fiele es, in dieses Lob einzustimmen – und das wird auch getan. Ich will es jedoch etwas gegen den Strich bürsten.
Gewiss. Die Verfasserin kann schreiben. Keine Frage. Sie nimmt ihre Leserinnen und Leser mit hinein in viele sachlich-nüchterne Szenen, mehr aber noch in ihre persönliche, natürlich unlogische und zum Teil verwirrende Gefühlswelt. Wie sollte es auch anders sein, wenn eine Tochter ihre an Demenz erkrankte Mutter auf ihrem langen Weg in den Tod begleitet. „Sterben hat seine Zeit“. In diesem Fall währte der Sterbeprozess acht lange Jahre. Tagebuchartig zeichnete Heiderich in vielen Notizen, manchmal auch längeren Abschnitten, ihre Erlebnisse mit ihrer Mutter und deren Welt auf. Wie ein Mosaik fügen sich Notizen und Erlebnisse zu dem Ganzen des Buches zusammen.
Erschütternd: Es gibt keine Schwester, keinen Bruder. Oder andere Verwandte. Offenbar auch keine Nachbarn oder Freunde, die sie hätten unterstützen können. (Der Vater war an den Folgen eines Autounfalles gestorben, der die damals elfjährige Verfasserin traumatisierte und ihre Mutter schwer verletzte.) So sind Mutter und Tochter seitdem allein, in der Situation der Demenzerkrankung jede auf ihre spezielle Art einsam. „Acht Jahre lang, meine andere, meine verstummte Mutter. Immer gab es mich in dieser Zeit doppelt. Die Kinder-Tochter sagte, sie darf nicht sterben. Die andere Tochter wusste, sie wird sterben, und ich werde frei sein.
Kaum Austausch mit anderen über das, was mit ihr, mit mir passierte. Mein Selbstmitleid. Sich dafür schämen, dass man sich selber leid tut. Die Scheu, anderen davon zu erzählen. Das Risiko, von Gefühlen überwältigt zu werden. Der Zwang, sich beherrschen zu wollen, zu müssen. Keine Tränen, bloß keine Tränen. Peinlichkeiten vermeiden. Mir darf das ja nicht passieren.“ (S. 8) Später dann doch: „Unvermittelt kommen mir Tränen. In merkwürdigen Situationen. Heute in der Schule am Kopierer, als ich mit Rosemarie spreche.“ (S. 44f)
Als die Mutter nicht mehr zu Hause leben konnte, besucht Heiderich ihre Mutter viermal in der Woche im Alten- und Pflegeheim, jeweils um vier. Mit fortschreitender Demenz verliert die Mutter jegliches Zeitgefühl. „Denkt, sie sei erst vor Kurzem in das Altersheim gekommen, weiß nicht, dass sie schon vier Jahre hier ist. Die Zeit zählt nicht mehr.“ (S. 20)
Gekommen ist der Tod schlussendlich, als die Mutter „ganz still dalag“. (S. 59 umgest.) „Sie blieb still, ganz still. Kein Atem mehr.“ (ebd.) Fast wie mit Kamera und Mikrofon detailreich aufgezeichnet, erlebt man diesen Tod mit. Ebenso, was Heiderich am Todestag (es war der erste Schultag nach den Herbstferien) und am Tag zuvor gemacht hat. Diese Passagen empfand ich etwas manieriert. Stark dagegen unter anderem die Beschreibung ihrer Empfindungen und Reaktionen, nachdem sie von den Schwestern aus dem Totenzimmern gebeten worden war.
Nach dem Tod der Mutter steht natürlich die Beerdigung an (die Urnen-Trauerfeier wird S. 116f sehr kurz und lakonisch abgehandelt). So weit, so gut. Zu Sterben und Tod gehören die Vorbereitungen des Begräbnisses, dieses selber, die Nachfeier und im weitesten Sinne auch der so oder so verlaufende Prozess der Trauer. Kritische Leser konstatieren jedoch an diesen Stellen einen Bruch in Heiderichs Buch. Nach dem Sterben ihrer Mutter entfaltet sich nämlich in vielen Rückschauen quasi ein zweites Buch, ein Buch im Buch. Dieses hat ihre Kindheit und Jugend, sowie Familiengeschichten zum Inhalt. Wer also Heiderichs Buch seines Titels wegen kaufte, der/die wäre nach gut einem Drittel damit schon fertig – außer man ist an den Vorgeschichten interessiert oder von Heiderichs Schreibstil so sehr fasziniert, dass man einfach weiter liest. Mir ging es nicht so. Literaturwissenschaftler beziehungsweise Psychologen mögen die grundsätzliche Frage klären, welche Sätze / Passagen (sehr) realitätsnah geschildert sind und wo die Grenzen zur literarischen Gestaltung hin ungebührlich überschritten wurden.
Rilke erzählt in seinen „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ vom Tod des Kammerherrn Detlev und sagt: „Er starb seinen Tod.“ In Heiderichs Buch erfährt man – teilweise sehr nahe und intim – vom Sterbeprozess und Tod ihrer Mutter.
Es ist ein Buch
1. eventuell für Angehörige ebenfalls an Demenz erkrankter Personen. Ich empfehle, dieses Buch ganz oder nur auszugsweise in einer Gruppe Betroffener zu besprechen.
2. für Theologen und mehr noch für Psychologen, um die Prozesse, die vor und nach dem Tod eines nahen Angehörigen ablaufen kritisch zu studieren.
3. für Pfarrerinnen und Pfarrer: inwieweit sind wir als geistliche Begleiterinnen und Begleiter bei Sterbeprozessen involviert? Haben wir dafür Zeit und Kraft? Wie wahrscheinlich die Regel, tritt in diesem Buch erst dann ein Pfarrer in Erscheinung, als es um die Bestattungsfeier geht.
Dr. Gerhard Maier, 72639 Neuffen, g-ms-n@web.de
Ich bin mit der Autorin seit langer Zeit verheiratet. Ich frage mich, wie dieser Text besprochen worden waere, wenn er ganz und gar fiktiv und nicht autobiografisch gewertet wuerde. Bitte korrigieren Sie die persoenlichen Daten.
– ich rezensiere prinzipiell keine fiktiven Bücher.
– ich hielt mich strikte an die im Buch verlautbarten Daten, frage mich allerdings, wieso die Autorin es quasi verheimlicht, dass sie verheiratet ist.