Evangelische Kirche – Schiff ohne Kompass?

Werner Thiede:

Evangelische Kirche. Schiff ohne Kompass?

Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2017, gebunden, 280 S., 29,95 €
ISBN 978-3-534-26893-1

2017 ist für den Protestantismus weltweit, besonders aber in Deutschland, ein Fest- und Feierjahr (gewesen). Viel umfänglicher als 1983 gedachte man Luthers – und 2017 natürlich des Beginns der Reformation vor 500 Jahren. Mindestens drei in 2017 erschienene Bücher haben nicht primär Luther und die Reformation im Blick, sondern die gegenwärtige Kirche: außer dem hier anzuzeigenden sind dies Ralf Frischs „Was fehlt der Evangelischen Kirche? Reformatorische Denkanstöße“ und Ulrich Parzanys „Was nun, Kirche? Ein großes Schiff in Gefahr“. Es wäre durchaus interessant, diese drei zu vergleichen; Parzany und Thiede haben im Titel beispielsweise dasselbe Motiv: das Schiff der Kirche. Diese wenigen mehr allgemeinen Bemerkungen seien mit einem Blick auf eines der vielen Gedichte Eichendorffs  („Der Pilot“) bereichert:

Glaube stehet still erhoben
Lieset in den Sternen droben
Über´m mächt´gen Wellenklang.
Fromm des Schiffleins sichern Gang.                                                    

Davon scheint nichts mehr, aber auch gar nichts mehr zu stimmen. Weder erleben wir einen still, sicher und aufrecht stehenden Glauben, noch erfahren wir eine sichere Fahrt des „Schiffes, das sich Gemeinde nennt“. Und eben dies ist das Thema dieses neuesten Buches des 1955 geborenen bayrischen Theologen, Pfarrers, Journalisten und Publizisten (s. https://rundfunk.evangelisch.de/personen/werner-thiede).

Bilderreich fragt Thiede zu Beginn des ersten Hauptteiles (S. 13-94: „A Herausforderungen“) mit folgenden vier Überschriften: „Wie seicht sind die Gewässer des Säkularismus? Wie steht es um den Anker der Hoffnung? Rechtfertigungslehre im Nebel? Geborgen im Hafen eines neuen Kulturprotestantismus?“ Im nächsten Abschnitt diagnostiziert er den Mitgliederschwund der deutschen Großkirchen, konstatiert den Verlust des Missionarischen und das fehlende Bekenntnisbewusstsein. Außerdem sieht er ethische Mängel (S.59: „Kirche ohne Heiligkeit“), die er an kirchenamtlichen Äußerungen und Entscheidungen zur Sexualmoral (Ehe gleichgeschlechtlich orientierter Menschen) exemplifiziert. Am Ende des ersten Hauptteiles geht es um die vier reformatorischen soli. Fast erwartungsgemäß heißt es S. 94 kurz und knapp: „Die protestantischen Prinzipien verschwinden.“

Der zweite Hauptteil (S. 95-195: „B Vergewisserungen“) beginnt im ersten Satz so: „Was evangelische Kirche heißt, ist nicht zu verstehen ohne Kenntnis der geschichtlichen Ursprünge im Zeitalter der Reformation.“ Deshalb steht am Anfang eine historisch-dogmatische Besinnung des Kirchenverständnisses von Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin (diese Reihenfolge!). In den drei folgenden Abschnitten geht es nach dem grundlegenden, mehr allgemeinen Abschnitt um Verständnis und Praxis des kirchlichen Amtes (leider ohne wirkliche Würdigung des allgemeinen Priestertums aller Getauften), der Visitation und der Sakramente. Bis dahin führt der Verfasser sage und schreibe 746 Anmerkungen auf; gesammelt sind sie auf S. 209-273. Also ein wahres Fleißwerk! Am häufigsten zitiert wird Luther. Schade, dass die Anmerkungsziffern im Fließtext eher schwer zu erkennen sind.

Im dritten Hauptteil (S. 196- 208: „C Perspektiven“) präsentiert Thiede – ganz ohne Anmerkungen und wohl in Anlehnung an das Reformationsjubiläum – „95 Thesen“. Diese fassen konzentriert dieses Buch und Thiedes andernorts geäußerte Anliegen (z.B. These 65-67 gegen die Einrichtung sog. Godspots und von WLAN-Verbindungen) zusammen.  In Analogie zu Luthers 95 Thesen ist in Thiedes erster These von „Kurskorrektur“ und „Umkehr“ der Kirche als gesamter die Rede (vgl. These 90f.95); Luthers Aufforderung zur persönlichen Buße wird also sozialisiert und auf die Kirche(n) fokussiert. Besonders dieser letzte Teil C könnte, ja sollte in Pfarrerskreisen diskutiert werden. „Konfliktfähigkeit und Versöhnungsbereitschaft sind gleichermaßen erforderlich…“ (These 55)

Dr. Gerhard Maier

 

 

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