Rochus Leonhardt, Ethik
Rochus Leonhardt, Ethik, Evang. Verlagsanstalt Leipzig 2019, gebunden 641 S., 38,– € ISBN 9783374071838
So gut wie jede Religion hat neben grundsätzlichen Lehren über Gott, Welt, Natur und Mensch, Vergangenheit und Zukunft auch eine lebenspraktische Seite. In ihr geht es um das individuelle, aber auch das sozial gebotene und untersagte Verhalten. Man nenne dies Sitte (so der kulturwissenschaftliche Ausdruck), Moral oder Ethik (so die konfessionell differenzierten theol. Bezeichnungen). Darum geht es in dem hier anzuzeigenden LETh-Band.
Als erste Information vorneweg, zugleich aber auch ein Maßstab für Leonhardts Werk: Das LETh (= Lehrwerk Evangelische Theologie) ist auf 10 Bände angelegt und verfolgt ein dreifaches Ziel. Es will in jedes Fach der Theologie
a) einführen,
b) einen Überblick bieten und
b) Grundwissen vermitteln.
Dies soll mithilfe eines klaren Aufbaues und in „griffiger Sprache“ geschehen.
Gleich auf der ersten Seite des Vorwortes (XV) sagt Leonhardt (abgek. L) zwei wichtige Dinge. Das erste ist, dass „die lutherische Tradition [für ihn und sein Werk] eine besondere Rolle spielt.“ Wohl deshalb taucht der Name Luther im Register erst gar nicht auf. Dagegen ist Luther in der Literaturliste Spitzenreiter. Zum zweiten zurück zum Register: Dort wird am häufigsten Aristoteles genannt; mit ihm begann die philosophische Ethik (S. 1). Und an ihm kommt kein Ethiker vorbei.
Vom Aufbau her hat L.s Ethik drei große Teile (im Fettdruck die Überschriften, mit einigen Bemerkungen meinerseits zu I-III):
I Zu Begriff und Entstehung der christlichen Ethik
Anfangs klärt L eine Reihe von Begriffen; völlig berechtigt stehen die Hauptbegriffe Ethik und Moral über allen anderen. Dazuhin nennt er jedoch (zu) viele weitere Begriffe und Namen. Das könnte leicht zu Verwirrungen führen. Im Vergleich dazu finde ich Härles Einleitung zu seiner Ethik (Berlin ²2018) kürzer und präziser. Übrigens sprechen sich beide betreffs des Nebeneinander von deskriptiven und normativen Ansätze in der Ethik für eine normative Ethik aus L deutlicher als Härle: „Ethik hat es per definitionem mit normativen Aussagen zu tun.“ (S. 10). Nur in einer Klammerbemerkung: (Etwas sehr angenehmes und hilfreiches sieht man zum ersten Mal auf den Seiten 24f. Nach einem längeren griechischen Zitat liest man eine deutsche Übersetzung. Im Fortgang seines Werkes übersetzt L lateinische Zitate meist selbst.)
II Zur historischen Entwicklung der Ethik Im zweiten Teil nennt L am Anfang zentrale biblische Bezugstexte und Leitbegriffe christlicher Ethik. Sodann breitet L die lange Historie der Ethik aus. Der römisch-katholischen Ethik werden dabei gerade mal 10 S. gegönnt. Dies deutet auf eine gewisse Vernachlässigung katholischer Positionen hin. Ähnlich verhält es sich mit säkularen Ethiken. Weitaus schlimmer finde ich, dass L offenbar ökumenische Perspektiven erst gar nicht sieht. Grob gesagt, ist die Ethik L.s also mehr nach innen gewandt, i.e. zur eigenen lutherischen Tradition. Diese wird einmal mehr, das andere Mal weniger glücklich aufs Heute appliziert.
III Themenfelder der (evangelisch-theologischen) Ethik
Was es bedeutet, dass „die Rechtfertigungslehre als Grundlage der evangelischen Ethik“ (S. 290-308) gilt, erweist sich laut L vor allem darin, dass alles menschlichen Handeln nur in endlicher Freiheit geschieht und dass es prinzipiell imperfekt, nur provisorisch ist. Das zweite betrifft die Auswahl der behandelten Themenfelder. L geht mit den „konjunkturellen Schwankungen“ so um, dass er „gelegentlich auf aktuelle gesellschaftliche Debatten verweist“ (S. 291, grammatikalisch angepasst). Nach der Grundlegung (Freiheit, Würde und Recht des Menschen, Gewissen, das menschliche Leben, die natürliche und künstlich-technische Umwelt) behandelt L als materiale Themenfelder seiner Ethik zuerst die Wirtschaft, dann erst die Politik.
Rückschauend lassen sich zumindest die folgenden fünf Punkte festhalten:
(1) Die Materialfülle und deren enzyklopädische Aufbereitung dieser Ethik sind sehr zu loben,
(2) auch dass der Autor vorbildlich hinter die Sache zurück tritt.
(3) Legt man den o.g. Maßstab des LETh an, so ist L.s Ethik annähernd vollständig einführend, vermittelt auf lutherischem Boden das nötige Grundwissen, unterscheidet jedoch Grund- und Spezialwissen insgesamt zu wenig.
(4) Ihr Aufbaues ist klar und L schreibt in griffiger Sprache.
(5) In der 2.Aufl. sollte das Begriffsregister korrigiert und erweitert werden; S. 174 müsste laut Register etwas zu Eros stehen – tut es aber nicht. Und mit nur 5,5 S. ist es zu kurzSo fehlen Begriffe wie Wille Gottes, Leben u.v.a.m.
Dr. Gerhard Maier