Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit
Ingolf U. Dalferth, Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit, Evang. Verlagsanstalt Leipzig 2020, Taschenbuch, 422 S., 32,–, ISBN 9783374063512
In jedem biblisch-theologischen Lexikon steht nicht weit entfernt von Schöpfung der Eintrag zu Sünde, so als ob es nach der biblischen Reihenfolge ginge: nach Gen 1f (Schöpfungsgeschichten) folgt in Gen 3 der sog. Sündenfall. Doch, was ist heutzutage davon geblieben? Ein volles „Ja“ zur Schöpfung(-sverantwortung), die Sünde aber ist weitgehend degradiert zu Verkehrssünden oder: „Ich habe wieder ´mal gesündigt“ i.S. von: „Ich aß (etwas) zu viel.“ Früher, da las und hörte man (zu) viel von (Erb-)sünde und – scheinbar gut lutherisch – „Alle Menschen sind Sünder.“ Der Würzburger Systematische Theologe Klaus Huizing dagegen veröffentlichte 2017 sein Anti-Sündenbuch „Schluss mit Sünde!“. Ganz anders dagegen das hier anzuzeigende Sündenbuch des seit 2007 an der Claremont Graduate University in Kalifornien lehrenden deutschen Religionsphilosophen und Theologen.
In fünf Kap. geht Dalferth sehr eigenständig und souverän dem Phänomen und der Problemgeschichte der Sünde im Denken des Westens nach; z.B. markiert er S.176f in wenigen Sätzen neben Augustin und dem Kath. Katechismus sechs moderne Verständnisse von Sünde.
Zuerst der Versuch eines kurzen Durchgangs. Im ersten Kap. („Ferne Erinnerungen“) definiert Dalferth auf S. 68 relational so: „alle Sünden lassen sich …in Untaten im Verhältnis der Menschen zu Gott, im Verhältnis zu anderen Menschen und im Verhältnis zu sich selbst einteilen.“ Auf S.38 stellt er nüchtern fest, dass die nachlassende Sensibilität für das Sündenthema am Ende zur Unmenschlichkeit führt/e. Und: „Der Traum der Aufklärung, dass Menschen sich selbst die nötigen Beschränkungen und Kontrollen auferlegen können, wenn sie nur ihrer Vernunft folgen … ist desaströs gescheitert.“
Kap. 2 hat die theologischen Denktraditionen zum Inhalt. Beginnend mit Paulus und vor allem Augustinus (aber auch Thomas von Aquin, Luther u.a.) endet Dalferth bei Schleiermachers Sündenbewusstsein. Dessen Grundgedanke der schlechthinnigen Abhängigkeit des menschlichen Bewusstseins von Gott wird repristiniert. Denn es ist „der Realitätskern allen Selbstbewusstseins und der Referenzpunkt jedes Gottesgedankens“ (S. 220).
In den Kap. 3 und 4 führt Dalferth mit den beiden Begriffen Transformationen und Dekonstruktion zwei neue Begriffe in die Lehre von der Sünde ein. Beide beschreiben die sich ständig wandelnde Reflexion der Sünde in Theologie und Philosophie, Kirche und Gesellschaft. Dass Dalferth diese vier Größen gleichgewichtig im Auge behält, das macht die Stärke seines Buches aus.
Das 5. Kap. („Der Sinn der Sünde“) möge man als Konzentrat und Klimax des Buches lesen. Des Verfassers kritische, letztlich aber positive Anthropologie zeigt sich last, but not least im allerletzten Abschnitt seines luziden Werkes. Seine Überschrift lautet „Mitmenschlichkeit: Die Aufdeckung der Sünde als Schlüssel zur Entdeckung der Menschlichkeit“. Darin steht – auch als Beispiel einer der vielen ´goldenen Sätze´ des ganzen Buches: „Wenn wir als Menschen eine Zukunft in einer sich technologisch rasant verändernden Welt haben wollen, müssen wir einen starken Sinn der Unendlichkeit entwickeln und die Unendlichkeit in einem positiven Sinn und nicht in einem negativen Sinn verstehen.“ (S. 410)
Nach diesem Überblick möchte ich fünf Schlussbemerkungen machen:
(1) Einer 2.Aufl. füge man ein Verzeichnis ausgewählter Bibelstellen bei. Wichtiger als dieses mehr Formale ist:
(2) Dalferths Werk ist weder auf der Kanzel, noch im Unterricht oder zu einem anderen Anlass direkt einsetzbar. Es will wie Schwarzbrot gut gekaut und verdaut werden.
(3) S. 47f verfolgt Dalferth in einigen europäischen Sprachen die „Grammatik der Sünde“. Leider hebt er den Reichtum der biblischen Sprachen nicht.
(4) Nach Dalferths tiefen Blicken in das westliche Denken der Vergangenheit und Gegenwart harrt man nun – in einer globalisierten Welt – religionswissenschaftlicher Einsichten zur Sünde.
(5) Im Vorwort der Göttinger Predigtmeditationen (74/2020, S. 316 wird Dalferths Werk als „eine großangelegte ´Lehr-Predigt´ für die Gebildeten unter den Verächtern des Sündenbegriffs“ bezeichnet. Dem schließe ich mich gerne an.
Dr. Gerhard Maier