Theologische Enziklopädie
Buchvorstellung und –besprechung
Von Manfred Wussow Aachen
Themen und Probleme Theologischer Enzyklopädie. Perspektiven von innen und von außen , hrsg. Christian Albrecht und Peter Gemeinhardt, Tübingen: Mohr 2021, 315 S., 79,00 €
„Themen und Probleme Theologischer Enzyklopädie“ im Heidelberger Predigtforum vorzustellen, könnte von einer Beobachtung ausgehen, dass, wenn überhaupt, Predigerinnen und Prediger geborene Enzyklopäden sind: Sie legen Texte aus, reflektieren Rezeptionsprozesse, nehmen dogmatische und ethische Klärungen vor und verantworten alles in einer kritischen Öffentlichkeit praktisch. Ist die Kanzel Bild für Enzyklopädie? Umgangssprachlich ist „enzyklopädisch“ mit breitem und umfassendem Wissen konnotiert (Lexikon), „enzyklopädisch“ ist jedoch vor allem der Zusammenhalt und das Zusammenspiel unterschiedlicher Fachgebiete und Fragestellungen unter einem gemeinsamen Dach . Was hält die Theologie zusammen, was macht sie aus und wo ist sie beheimatet? In der Theologischen Fakultät – und wo noch?
Der Basler Kirchenhistoriker Karl Rudolf Hagenbach (1801-1874), Schüler Schleiermachers und Neanders, hat für Studenten der Theologie eine Enzyklopädie geschrieben:
„Obwohl dem Theologen seine Lebensaufgabe erst durch das Studium der Encyklopädie vollkommen klar werden soll, so ist doch von Jeden, der an dieses Studium herantritt, zu fordern, daß er im Allgemeinen die Stellung, die er hinfort im Ganzen der menschlichen Gesellschaft einzunehmen gedenkt, begriffen und sich über den Stand, dem er mit freier Wahl angehören will, eine klare und befriedigende Vorstellung gebildet habe“ .
Für Hagenbach stellt die theologische Enzyklopädie Lebensaufgabe und Stellung des „christlichen Lehrstandes“ dar. Der „Anfängerübung“ – in der 12. Auflage immerhin 600 Seiten – stellt Hagenbach gegen Ende seiner Lehrtätigkeit für die „aus der Schule Austretenden“ „Grundlinien der Liturgik und Homiletik“ (1863) an die Seite und nennt sie förmlich auch „Seitenstück“ (189 Seiten) seiner Enzyklopädie
Das vorzustellende Buch „Themen und Probleme Theologischer Enzyklopädie“, 2021 herausgegeben von Christian Albrecht und Peter Gemeinhardt, wird wohl kaum von Anfängern gelesen werden und versteht sich eher als Selbstreflexion von Fachvertretern, die rote Fäden suchen. Ihnen darin zu folgen, ist allerdings für Praktiker (und solche, die es werden wollen) ein Abenteuer, dem alltäglichen Trott einen Horizont zu geben. Nebenbei: Wer auf 315 Seiten einen Ausflug in die wissenschaftliche Theologie –mit ihren Fächern und Kernthemen – machen möchte, findet „Themen und Probleme“, eine „Enzyklopädie“ im Kleinformat. Das Buch ist zwar „eine teure Last“ (oder Lust?), aber wertvoller als 79 €, und bietet in drei umfangreichen Kapiteln tatsächlich „Perspektiven von Innen und Außen“, wie der Untertitel verspricht.
Das Buch geht zurück auf eine Fachtagung an der Ludwig-Maximilians-Universität München am 15. und 16. März 2019, an der sich Lehrbuchautorinnen und –autoren getroffen haben, um „Unterschiedliches ins Gespräch zu bringen und Einigendes in der Vielfalt zu identifizieren“ (S. 5). Die im Verlag Mohr erscheinende Buchreihe „Neue theologische Grundrisse“ – einige Bände liegen inzwischen vor – wird so begleitet, „dass sich am Ende nicht nur ein buntes Nebeneinander von alttestamentlichen, neutestamentlichen, kirchengeschichtlichen, systematisch-theologischen, praktisch-theologischen und religionswissenschaftlichen Grundrissen ergäbe, sondern ein Ensemble von Büchern, bei denen die übergreifende theologische Dimension jedenfalls im Blick wäre“ – oder, prägnant: „… was das ‚Theologische‘ an den ‚Neune Theologischen Grundrissen‘ sein könnte und sollte…“ (S. 4)
Auf katholischer Seite wurde zu dieser Frage „Das Theologische der Theologie“ fast zeitgleich (2019) eine Ringvorlesung an der Kath. –Theol. Fakultät Salzburg (SS 2017) veröffentlicht.
Schon die ersten Sätze im Tagungsband lassen aufhorchen: „Theologie ist ein merkwürdiges Gebilde. Unter den Fakultäten an deutschen Universitäten ist sie traditionell die erste, jedenfalls eine der ältesten, allerdings meist die kleinste. Sie beansprucht dennoch, ein ganzes Universum fachlicher Perspektiven in sich zu begreifen, die auf einen einheitlichen Gegenstand bezogen seien (was nicht jede Fakultät von sich zu behaupten wagt)“ (S. 1)
Nach einer instruktiven Einleitung und einem ersten Beitrag „Theologische Enzyklopädie. Bemerkungen zu Genese, Bedeutung und Aktualität einer notwendigen Disziplin“ aus der Feder des Kirchenhistorikers A. Beutel, werden im 2. Kapitel die theologischen Disziplinen (AT, NT, Kirchengeschichte, Systematische Theologie, Praktische Theologie und Religionswissenschaft) jeweils von zwei BeiträgerInnen vorgestellt und diskutiert („Response“ oder „Bemerkungen zu…“). Ein schönes Verfahren, auch die feinen Fäden, die gesponnen werden, sichtbar zu machen.
Das dritte Kapitel weitet Blicke aus: auf die Ökumenische Verantwortung, auf Religions- und Sozialwissenschaften, auf Kirchenrecht, Kunst- und Kulturwissenschaften sowie – in gewisser Weise auch ein Höhepunkt – auf die Philosophie (aus der Feder des Altmeisters Volker Gerhardt).
Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie ein Personenregister runden den instruktiven Band ab.
An drei Nahtstellen werden Verbindungen hergestellt: In „Das Verbindende der Praxis“ (S. 59ff.) äußert sich ein Systematiker zu dem alttestamentlichen Impuls, in „Systematische und praktische Annäherungen an die theologische Hermeneutik“ (S. 151ff) baut ein Praktikscher Theologe die Brücke zur Systematischen Theologie und am Ende des 2. Kapitels fragt eine Systematikerin nach Wahrheit und Relevanz in Religionswissenschaft und Theologie“ (S. 199ff).
Die theologische Enzyklopädie – ein Teil der Enzyklopädien“ insgesamt – ist ein Dickicht, historisch verwachsen und vielfältig-unübersichtlich verästelt. Worin liegt der Reiz – oder die Notwendigkeit –sich mit Themen und Problemen Theologischer Enzyklopädie überhaupt zu beschäftigen? Und was trägt das für den Praktiker aus, der routiniert, verunsichert oder überfordert heute da, morgen hier grast und eben nicht „Professor für …“ ist? Und wie alt sind die „Neue(n) theologische(n) Grundrisse eigentlich?
War Hagenbach’s Enzyklopädie noch berufsorientiert und –orientierend (in gewisser Weise identitätsstiftend und aus einer Hand), fragt der vorgelegte Tagungsband nach der „Einheit der Theologie“ in der Vielfalt und Differenzierung ihrer Fächer, i.W. um eine Lehrbuchreihe zu begleiten. Eine „enzyklopädische“ Betrachtung der bereits erschienenen Bände aus der Reihe „NThG“ hätte noch sehr gut in das Buch gepasst und wird vermisst!
Eine Theologische Fakultät bietet ihren Disziplinen einen organisatorischen Zusammenhang, ist in universitäre Strukturen eingebunden und wird von außen wahrgenommen, kritisiert oder in Anspruch genommen (S. 7ff.). Was macht da die „Einheit der Theologie“ aus? Gibt es sie (überhaupt)? Lässt sie sich finden?
Die „externe Wahrnehmung der Theologie als ein Fach“ sollte „dazu motivieren, an der Selbstbeschreibung von innen zu arbeiten, und zwar nicht zuerst, um von außen herangetragenen Erwartungen zu entsprechen, sondern um in erster Linie die enzyklopädische Fragestellung als Herausforderung aufzunehmen“ (S. 8).
Wie aber kann „ein Fach“ im Innen- wie im Außenverhältnis erkenn- und identifizierbar sein? Und dann auch noch in den vielen außeruniversitären Zusammenhängen (Kirche und Zivilgesellschaft), in denen Theologie als Lebenselixier und Schreckgespenst wie ein (himmlischer) Doppelgänger spukt? Die Vielfalt wird vorausgesetzt, die Einheit gesucht (ein allgegenwärtiges Thema fast überall). Lassen sich Zersplitterung, Fragmentierung und Differenzierung auch in einer „Einheit“ unterbringen?
Ein Schlusskapitel, in dem der Ertrag der Diskussionsbeiträge zusammengefasst wäre, fehlt im Tagungsband. Am Ende liegen viele Fäden unverbunden nebeneinander, enzyklopädisch nicht verknüpft.
Die Praktische Theologie
Die Praktische Theologie – beispielsweise – wird in drei Beiträgen thematisiert: Michael Meyer-Blanck, Systematische und praktische Annäherungen an die theologische Hermeneutik – Christian Albrecht, die Praktische Theologie im Gesamtzusammenhang der Theologie – Peter Gemeinhardt, Über die (Un-)Vollkommenheit der Praktischen Theologie – aus der Sicht der Christentumsgeschichte, insgesamt 30 Seiten. Der Beitrag von M. Meyer-Blanck steht an der Nahtstelle zur Systematischen Theologie, der von P. Gemeinhardt ist die Replik eines Historikers. In der Mitte dieser drei Teile steht der „Gesamtzusammenhang der Theologie“.
1. Meyer-Blanck
Meyer-Blanck, Universität Bonn, knüpft an die Architekturüberlegungen im Beitrag von Michael Moxster („Enzyklopädie aus der Perspektive Systematischer Theologie“ (121-142) an. Geht es zunächst um die „Anordnung der Subdisziplinen (sowie der Bände der Lehrbuchreihe NThG)“, dann aber um die“ Theologizität der Theologie insgesamt“ (S. 151).
„Häufig erscheint die Theologie aus der Sicht der Studierenden wie ein schlechter Schulvormittag: viele Fächer, viel Spezialwissen, wenig Einsicht in dessen Bildungsgehalt und wenig Impulse für das eigene Selbstverständnis“ (151f.).
Meyer-Blanck resümiert für die Systematische Theologie „Orientierungsleistungen für die Theologizität der gesamten Theologie“ und sieht sie als „Hilfswissenschaft für die anderen theologischen Fächer“ (S. 152), um dann (auch) die Praktische Theologie als „eine Hilfswissenschaft der drei systematisch-theologischen Disziplinen“ (S. 153) zu entwickeln. Schleiermacher lugt mit seiner Enzyklopädie als Pate um die Ecke. Die „Nähe von systematischer und praktisch-theologischer Hermeneutik“ lässt sich in der Theologie „als einer Berufstheorie um Prozesse der Kommunikation, der Darstellung, Mitteilung und Bildung“ (S. 153) sehen. Dass die Praktische Theologie „auch Quelle der Dogmatik“ ist, versteht Meyer-Blanck als einen „normativen“ Satz. „Das gilt etwa für die Berücksichtigung des Gottesdienstes in seiner rituellen, rhetorischen und ästhetischen Realität. Hier habe die Dogmatik mit ihrer Konzentration auf die media salutis noch einen deutlichen Nachholbedarf. Die Ritualität des Wortes ist eine dogmatisch allzu oft vernachlässigte Dimension“ (S. 153f.). Gottesdienst ist hier als ein „Stellvertreter“ zu nehmen. Hilfswissenschaften für einander zu sein, könnte eine Theologische Enzyklopädie ausmachen. Die Disziplinen nehmen ihre Kronen vor einander ab und vor theos und Logos .
Moxter hat in seinem Beitrag dafür geworben, „das grundlegende Fach der Systematischen Theologie und den entsprechenden Band der NThG als ‚Religionsphilosophie‘ zu bezeichnen“ (S. 154) – nicht Theologische Hermeneutik, auch nicht Fundamentaltheologie. Obwohl es dafür gute Gründe gibt – die Verbindung zu Philosophie, Religionssoziologie und Religionspsychologie – plädiert Meyer-Blanck für den Begriff und den Titel „Fundamentaltheologie“, ungeachtet möglicher Missverständnisse oder Engführungen. „Bei dem Begriff ist deutlich, dass es um theologische Überlegungen geht , die grundlegender Natur sind … indem sie die fundamentalen Reflexionsperspektiven der evangelischen Weise, Theologie zu treiben, explizit machen“ (S. 154f.).
Hier werden wir in einen Workshop gelockt, in dem ein Praktischer Theologe im Gespräch mit einem Systematiker abwägt, welche Bedeutung und Signalwirkung auch Buchtitel und -programme haben. Ungeachtet terminologischer Überlegungen ist 1. „zu bedenken, wie die Bemühung um die Einheit der immer weiter ausdifferenzierten Theologie in den NThG abgebildet wird“ und 2. ob sie im „Hinblick auf die studentischen Nutzerinnen und Nutzer ausreichend ist“ (S. 155).
Meyer-Blanck regt einen eigenen Band an, „in dem grundlegende Fragen der Theologie als ‚positiver‘ Wissenschaft durch die verschiedenen Disziplinen anhand eines vergleichbaren Themenkatalogs erschlossen werden könnten. Dazu gehören für mich in erster Linie das Religions-, Geschichts-, Schrift- und Kirchenverständnis, die Frage nach dem Verhältnis von Deskriptivität und Normativität sowie das Thema der Entwicklung aktueller ethischer Maßstäbe.“ (S. 155). Er hofft, „den Hiatus zwischen wissenschaftlicher Theologie und individueller, kirchlicher sowie gesellschaftlicher christlicher Praxis zu schließen“ (S. 155). Ob Diskussionen im Umfeld dieses Beitrages geführt wurden? Ein wie auch immer konturiertes Protokoll fehlt.
Auf das von Meyer-Blanck vorgeschlagene Buch – bei einem wird es nicht bleiben – ist der Rezensent sehr gespannt.
2. Christian Albrecht
Christian Albrecht, Universität München, beginnt seinen Beitrag „Die Praktische Theologie im Gesamtzusammenhang der Theologie“ (S. 157-173 mit der Beobachtung, dass – unter den theologischen Disziplinen – der Praktischen Theologie „ein fester Gegenstand, ein fester Themenbestand oder ein fester Methodenkanon“ (S. 157) fehle. Schleiermacher schaut hier kurz vorbei, verschwindet dann aber auch schnell wieder. In der 1. Auflage seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen“ (1811) hatte er die Praktische Theologie als Krone bezeichnet, wobei das Bild von der Krone – botanisch – die vielen Verzweigungen, Blüten und Früchte eindrücklich vor Augen stellt. Albrecht spricht die „fehlende Selbstverständlichkeit“ an, die zwar zu einer eigenen breiten „Grundlagenreflexion“ geführt habe (S. 157), aber Leerstellen beim „theologieexternen Blick“ evoziere. Gemeint ist, dass „Erwartungen, Eindrücke und Enttäuschungen“ außerhalb der Praktischen Theologie als Fachdisziplin nicht in den Blick kommen, „zum einen, weil er in der Binnenperspektive der theologischen Enzyklopädie aus konstitutiven Gründen gar nicht vorkommen kann, und zum anderen, weil er auch kaum sinnvoll von einem Akteur praktisch-theologischer Theorie eingenommen werden könnte“ (S. 158). Dem möglichen Vorwurf einer „Insuffizienz“ hält Albrecht entgegen, dass hier ein „Grundproblem“ markiert sei, „von dem eine stark professionswissenschaftlich ausgerichtete Disziplin wie die Praktische Theologie stets stärker betroffen sein wird als andere theologische Disziplinen, für die der Professionsbezug nicht so stark gegeben ist“ (S. 158). Die Formulierungen „stets stärker“ und „nicht so stark“ sind jedoch zu vage, um den Professionsbegriff – als Begriff hier vorausgesetzt – in eine enzyklopädische Orientierung zu bringen. Insofern ist auch der Fokus auf die „Binnenperspektive“ zwar verständlich, aber nicht begründet. Albrecht verweist auf die Nähe von Praktischer Theologie und Theologischer Ethik in den „Differenzerfahrungen“.
Nach diesem Versuch einer ersten Einordnung folgen die Kapitel (1) Zum Entstehungsgrund der Praktischen Theologie, (2) Das Thema der Praktischen Theologie im Horizont des Themas der Theologie insgesamt, (3) Der Zusammenhang der Praktischen Theologie mit den übrigen theologischen Disziplinen im Theorievollzug, (4) Zu Gegenwartsvollzügen der praktische-theologischen Theorie und (5) Der Zweckbezug der Praktischen Theologie.
(1) In der 2. Hälfte des 18. Jahrhundert beginnt die Unterscheidung von Religion und Theologie. Es ist zu beobachten, „dass die Praxis des Christentums, die bisher in der Theologie aufgehoben war, dieser nun gegenübertrat und zur Aufgabe der neuzeitlichen Theologie wurde“ (S. 160). Differenzen, die sichtbar werden, bedürfen der Vermittlung. „In ihrer vorneuzeitlichen Gestalt als Pastoraltheologie stellte sie eine Sammlung von Klugheitsregeln dar, die als Umsetzungen der dogmatischen, exegetischen und historischen Erkenntnisse in die Wirksamkeit des Geistlichen mehr oder weniger selbstverständlich waren oder doch sein sollten. Jetzt wuchs dieser Disziplin die neue, zusätzliche Aufgabe zu, die religiöse Praxis als ein eigenes Thema der Theologie insgesamt zu reflektieren“ (S. 160). Die Unterscheidung „zwischen einer äußerlich-objektiven Normativität der Glaubensinhalte und der Freiheit subjektiv-individueller religiöser Vorstellungen“ mache sich geltend (S. 160).
Der historische Blick geht durch ein Schlüsselloch geht und erblickt eine protestantische Welt. Es ist eine Binnenperspektive. Eine gelungene , wenn auch einseitige Zuspitzung! Die vielfältigen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert mit ihren Widersprüchen, Lagerbildungen und Verwerfungen warten derweil geduldig vor anderen Linsen.
(2) Die von Albrecht skizzierte Unterscheidung führt zu der Herausforderung eines theologisch angemessenen Umgangs mit der Selbständigkeit der Religion, die dem Pfarrer – hier taucht er einmal auf – in konkreten gemeindlichen Situationen entgegenschlägt. Dabei gerät die Theologie insgesamt – mit allen Disziplinen – in einen Praxisbezug, der „für das neuzeitliche Bewusstsein seit der Aufklärung überhaupt kennzeichnend ist“. Gewährsmann ist Schleiermacher. Die Praktische Theologie wird zur „Repräsentantin“. Sie sei nicht das „Reservat eines einzelnen Faches, sondern ein Element und Aspekt aller theologischen Fächer“. Die „disziplinäre Differenzierung“ sei (lediglich)
„Ausdruck einer notwendigen und sinnvollen Arbeitsteilung“ und diene der „gegenseitigen Entlastung“, die „das Prinzip des Zusammenhanges der theologischen Disziplinen untereinander“ darstellt (S. 161). Gemeinsame Aufgabe sei – mit Schleiermacher – nach wie vor die „Kirchenleitung“.
Konkretisiert wird diese Zuordnung nicht, auch nicht, was 200 Jahre nach Schleiermacher „Kirchenleitung“ überhaupt sein kann.
Thetisch formuliert, sind diese Überlegungen durchaus reizvoll und offen für viele Annäherungen, aber es fehlen in der Argumentation nicht nur die Praxisbezüge der anderen theologischen Disziplinen, sondern auch die Verbindungslinien der Praktischen Theologie zu ihnen. Wie wäre ein Modell denkbar? Ein lineares Modell hat ausgedient, nachdem die Realitäten sich Linien entzogen haben. Was macht unter dem Gesichtspunkt der „gegenseitigen Entlastung“ (von was eigentlich?) dann auch die Einheit der Theologie aus? Und ist nicht auch von einer „gegenseitigen Belastung“ zu reden, die Theologie nach innen wie nach außen unter Spannung hält? Was bedeutet übrigens „Selbständigkeit der Religion“?
(3) Unstrittig nennt Albrecht, „dass die Praktische Theologie handlungs-orientierende Überlegungen ausformulieren soll“ (S. 162), ungeachtet der Differenz „zwischen grundsätzlichen theoretisch-theologischen Lehrbestimmungen des Feldes, dem die Handlung gelten soll, und den empirischen Formen der christlich-kirchlichen Lebenswelt“ und der Herausforderung, „dass die von der theologischen Theorie unterschiedene Welt der gelebten Religion innerhalb der theologischen Theorie selbst thematisch wird“. Albrecht spricht vom „Doppelcharakter der Praktischen Theologie“ (S. 163).
Die Problematik zeige sich in „voller Schärfe, wenn man sie auf das Verhältnis der Praktischen Theologie zu anderen theologischen Disziplinen bezieht“. Einerseits enthält die Praktische Theologie „Elemente einer Kunstlehre des Amtshandelns“ (!) – andererseits findet sie „Begründungen in anderen theologischen Disziplinen“ (S. 163). Die Praktische Theologie ist insofern nur bedingt eigenständig (und dann auch nur bedingt wissenschaftlich), weil sie von „Anleihen bei ihren theologischen Schwesterdisziplinen lebt, deren Erwägungen sie bestenfalls verdoppelt, schlimmstenfalls verzerrt“ (S. 164). Seit Schleiermacher ist das Problem bekannt, aufgegeben und – nicht gelöst! Albrecht meint sogar, dass „die Wirkung dieser Problemanzeige bei weitem die Durchsetzungskraft seiner enzyklopädischen Bestimmungen der Praktischen Theologie“ übersteige (S. 165, Anm. 7). Die Spannung liege zwischen „der Zweckbestimmung der Praktischen Theologie, Kunstregeln enthalten zu sollen, die gerade keinen Wissenschaftsanspruch erheben“ und der „Verfahrensbestimmung…, für diese Kunstregeln wissenschaftliche Begründungen parat haben zu sollen, deren Entfaltung nicht mit den Zweck- und Verfahrensbestimmungen oder den ausgeführten Themen der anderen theologischen Disziplinen kollidiert bzw. konkurriert“ (S. 164).
Die Praktische Theologie wird in diesem Gedankenschritt auf „einzelne und konkrete religionspraktische Lebensform des kirchlichen Christentums“ (S. 162) bezogen, „Amtshandeln“ eingeschlossen. Das schließt zwar die „Selbständigkeit der Religion“ (s. 2) ein, verengt sie aber auch in einer Form „christlich-kirchlicher Lebenswirklichkeit“ (S. 163). Hier fehlt die begriffliche Schärfe, zumal es ein Christentum ohne Kirche, außerhalb der Kirche oder gegen die Kirche gibt. Und ist die Praktische Theologie nicht einmal angetreten, sich überhaupt von kirchlichen Bezügen zu emanzipieren?
Dem Zusammenhang der Praktischen Theologie mit der Theologie als ganzer widmet sich Albrecht in einem eigenen Abschnitt. War bisher von Arbeitsteilung und gegenseitiger „Entlastung“ der Theologische Disziplinen, auch der Praktischen Theologie, die Rede, von Amtshandeln einerseits und „Anleihen“ der Praktischen Theologie andererseits, fällt jetzt der Blick auf die Theologie als ganzer: Als „positive Wissenschaft“ – wieder nach Schleiermacher – ordnet sie ganz verschiedenes Einzelwissen in eigenen, zweckbezogenen Ensembles. „Die Theologie ist keine reine, aus der Idee des Wissens selbst sich ergebende Wissenschaft, sondern sie entleiht aus anderen Wissenschaften dasjenige Wissen, das sie zur Erfüllung ihres Zweckes benötigt“ (S. 165). Also nicht nur die Praktische Theologie „leiht“ bei … aus, die ganze Theologie beruht auf Ausleihprozessen. Was dann die Theologie zur Theologie macht? „… einzig und allein die durch ihren Zweck bestimmte Zusammenstellung von Wissensbeständen aus anderen Wissenschaften“. Daraus folge der „interdisziplinäre Konstitutionscharakter nicht nur der Theologie als ganzer, sondern auch ihrer einzelnen Disziplinen“ (S. 165).
Für die Praktische Theologie differenziert Albrecht „zwei Formen des Beleihungsverfahrens“: Die Praktische Theologie „stellt aus dem Reich des Gesamtwissens dasjenige zusammen, was sie zu ihrer Zweckerfüllung benötigt“ – hier „von nicht theologischen Disziplinen“ (Beispiele: Homiletik – Rhetorik, Seelsorge – Psychoanalyse). „Daneben“ beleiht die Praktische Theologie „faktisch auch ihre theologischen Schwesterdisziplinen, die exegetischen, historischen und systematischen Disziplinen der Theologie“, um diese „Wissensbestände in ihre eigenen Vollzüge“ zu integrieren (Beispiele: Kirchentheorie, Geschichte der Predigt, Dogmatik des Gottesdienstes) (S. 165f.). „Dass die exegetischen, historischen und systematischen Disziplinen diese Wissensbestände ihrerseits zuvor anders woher, nämlich aus nichttheologischen Bezugsdisziplinen entlehnt haben, ficht die Praktische Theologie dabei nicht an“ (S. 166). Entscheidend sei, ob die Wissensbestände „zur praktisch-theologischen Aufgabe einer Optimierung gegenwärtiger und zukünftiger Praxis des christlichen Lebens beitragen können oder wie sie dementsprechend modifiziert werden müssen“ (S. 166).
Albrecht resümiert für den „Wissenschaftscharakter der Praktischen Theologie“: „Es reicht nicht aus, die gut eingespielte Rezeption nichttheologischer Bezugswissenschaftsbestände in der Praktischen Theologie zum Kriterium ihrer Wissenschaftlichkeit zu machen. Ihr theologisch-wissenschaftlicher Charakter ist in mindestens dem gleichen Maße abhängig davon, wie sehr es gelingt, exegetisch-theologisches und historisch-theologisches und systematisch-theologisches Wissen in die eigenen Überlegungen zu integrieren“ (S. 166). Diese Integrationsaufgabe ist einerseits für den theologischen Charakter der Praktischen Theologie notwendig, „führt andererseits ebenso notwendig zu einer Infragestellung ihrer Selbststeuerungsfähigkeit und damit ihrer wissenschaftlichen Selbständigkeit“ (S. 166).
Als zentrale Begriffe schälen sich in diesen Überlegungen „Wissensbestände“ und „Beleihungsverfahren“ heraus. „Wissensbestände“ und ihre Ordnungen sind alte und genuine Themen der Enzyklopädie, Bestände und Beleihungen aber auch die der Bankbetriebswirtschafslehre. In den vorgestellten Überlegungen wird postuliert, dass es Wissensbestände gibt, wohl auch, dass sie ständig wachsen (oder sich verändern?), und, dass Entnahmen / Ausleihungen intendiert sind. Zu den Bildern gehören auch die des „Umlaufs“ und der Akkumulationen. Gibt es theologische Depots? Tilgungen? Zinsen? Was ist eigentlich zurückzuzahlen? Die dynamischen Prozesse, die angesprochen werden, gehen in dieser Begrifflichkeit zunächst unter oder finden aus ihr nicht so leicht heraus. Faszinierend könnte gleichwohl sein, das Bankenmodell positiv für die Theologie zu denken. Ist das nicht vielleicht auch eine Form der Enzyklopädie? Offen bleibt am Ende, was von der Wissenschaftlichkeit der Theologie überhaupt zu halten ist, wenn fachintern Relativierungen vorgenommen werden („Infragestellung … Selbststeuerungsfähigkeit … Selbständigkeit“). Ob die Theologie eine Wissenschaft sei, wird von vielen – universitätsnah, auf der Straße oder im Netz – gefragt. Und: Warum braucht man eine Theologische Fakultät, wenn die „Wissensbestände“ (oder Depots) ohnehin anderswo gelagert sind oder gelagert werden können?
Matthias Gatzemeier hat 1974/1975 diese (Rück)Fragen in seiner Konstanzer Habilitation gestellt – beantwortet wurden sie (noch) nicht. Vielleicht lassen sie sich auch nicht beantworten. Wenn sämtliche Disziplinen einer Theologischen Fakultät aber „umgemeindet“ werden könnten – was macht dann die Theologische Fakultät (und die Einheit der Theologie) aus?
(4) Das – nicht wirklich – „beschriebene Verhältnis der Praktischen Theologie zu den übrigen theologischen Disziplinen und im Rahmen der Theologie als ganzer“ überprüft Albrecht „an der konkreten Behandlung“ von „Rolle und Funktion der Praktischen Theologie“ (S. 167). Leitende und normative Ideen hätten ihre prägende Kraft verloren, aber verwurzelte Praktiken eine „erstaunliche Bedeutung“ er- und behalten. „Die Christentumspraxis in ihren höchst vielfältigen Erscheinungsweisen zieht seit einigen Jahren eine zunehmende Aufmerksamkeit auf sich und wird wieder neu zum Thema der Theologie“ (S. 167).
Als Phänomene nennt Albrecht den „vielfach unbefangenen Synkretismus auf der Ebene individueller Religiösität“, der „kirchliche Formierungsansprüche souverän ignoriert“ – die „Stabilität der kirchlichen Kasualpraxis“ sowie die „hohe Akzeptanz der kirchlichen Begleitung individueller Lebensgeschichten“ – die „Hochschätzung von Pfarrern und Pfarrerinnen“ – die „große Zustimmung, die die Diakonie als tätiges Christentum erfährt, auch wenn ihre Tätigkeiten vielfach nicht unterscheidbar sind von den Tätigkeiten konkurrierender Anbieter auf den Sozialmärkten“ und „nicht zuletzt“ ist auf die Konjunktur der Spiritualität in ihren vielfachen Formen hinzuweisen. „Frei von den inhaltlichen Bestimmungen dessen, was man Glauben nannte, akzentuiert sie das Rituelle und Habituelle und schützt das Individuelle vor allen Versuchen normativer Zugriffe“ (S. 167).
Für Albrecht sind das auch beispielhaft „Indizien für eine zunehmende Bedeutung von Praktiken des christlichen Lebens, die das Christentum der Gegenwart tiefgreifenden Wandlungen aussetzt und die auf ein theologisches Verstehen drängt“ (S. 168). Die Bedeutung von Praktiken sei „Thema aller theologischen Disziplinen“, von der Exegese bis zur Systematischen Theologie, in besonderer Weise aber der Praktischen Theologie, die auf die Verschiebungen, die sie in den Nachbardisziplinen wahrnimmt, reagieren muss. „Erst in der Sichtweise der anderen Disziplinen kann die Spannung zwischen der überlieferten Idealität beispielsweise des propositionalen Gehaltes biblischer Texte oder des normativen Anspruchs dogmatischer Sätze einerseits und andererseits der gegenwärtigen Realität ihrer Funktion in der Christentumspraxis zum Bewusstsein kommen“ (S. 169). Albrecht formuliert unter „heuristischen Gesichtspunkten“, „dass die Praktische Theologie ihren Themen nicht eigenständig gewinnt, sondern aus der Perspektive anderer Disziplinen“ (S. 169).
Als Beispiel für ein „Reflexionsverfahren“ wählt Albrecht „die zunehmende Bedeutung von Praktiken im Leben des Christentums“: 1. „Zuhilfenahme sozialwissenschaftlicher Praxistheorien“, 2. Empirische Erhärtung der Deutungsvorschläge, 3. Bezug „auf die normativen Vorstellungen“, „die sie aus anderen theologischen Disziplinen entleiht, hier beispielsweise aus der dogmatischen Kirchen- oder Amtslehre oder aus der historisch-theologischen Orientierung über die Bedeutung der Schrift“. Für diese „Reflexionsvollzüge bildet die Praktische Theologie dabei eigene Formen aus, teils auch eigene Subdisziplinen“ (u.a. Kasualtheorie, Pastoraltheologie, Spiritual-Care-Theorien, Theorien zur praktischen Schriftauslegung). „Deren Aufgabe besteht in der Beschreibung des spannungsvollen Verhältnisses zwischen Idee und Praktik im jeweiligen Themenfeld und in der Erschließung handlungsorientierender Überlegungen.“ (S. 169)
Für Albrecht ist das Thema der Praktischen Theologie die Selbständigkeit des religiösen Lebens. Sie reflektiere diese „als Entlastung der anderen Disziplinen“, beleihe die Sozialwissenschaften und die anderen theologischen Disziplinen – und bleibe „bei all dem im Kern unselbständig“ (S. 169). Zu dieser Schlussfolgerung gehöre, „dass sich im Blick auf die Verankerung der Praktischen Theologie in der Theologie als ganzer keine substantiellen Veränderungen konstatieren lassen“ (S. 170).
Ein Schlusselwort ist „Christentumspraxis“. Sie spielt in allen theologischen Disziplinen eine Rolle, dringt auf ein theologisches Verstehen und wird in der Praktischen Theologie reflektiert. Zentrale Begriffe sind „Reflexionsverfahren“ oder „Reflexionsvollzüge“. Die These Albrechts von der „Unselbständigkeit“ der Praktischen Theologie bei gleichzeitiger oder vorgeordneter „Selbständigkeit des religiösen Lebens“ ist nicht widerspruchsfrei. Wird hier nicht der Praktischen Theologie die „Krone“ aufgesetzt als einer jetzt nachgeordneten – untergeordneten? – Magd des Herrn? Was ist mit der „Selbständigkeit des religiösen Lebens“? Braucht sie so etwas wie eine Praktische Theologie – und huscht sie ihr nicht ständig davon?
(5) Lassen sich „im Blick auf die Verankerung der Praktischen Theologie in der Theologie als ganzer keine substantiellen Veränderungen konstatieren“, so gibt es sie doch beim „Zweckbezug“ (s. 170).
Hatte die Praktische Theologie ursprünglich ihren Zweckbezug in der Pfarrer- und Lehrerausbildung, damit auch in der „Kirchenleitung“ (nach Schleiermacher), sind im Laufe der Zeit neue Zweckbezüge hinzugekommen: von „interessierten Laien“ über „Angehörige anderer kirchlicher Berufsgruppen“ bis zu „Bischofskanzleien“, „Öffentlichkeitsabteilungen“ und eben auch „akademischen Gesprächspartnern“. Diese Ausweitung der Adressatenkreise tangiert zwar die „Funktionsweisen der Praktischen Theologie in ihren Vollzügen“ nicht, auch nicht die „Beleihung anderer Disziplinen“, führt aber zu Ausdifferenzierungen und zu einer Vielfalt sozialer Orte. Albrecht sieht „drei solcher grundlegend unterschiedenen Erscheinungsformen“: 1. Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pfarrpersonen und Lehrkräften, 2. Theologiehistorische und kulturhistorische „Erschließungen“ sowie 3. „die praktisch-theologische Reflexion der gesellschaftlichen oder politischen Funktion des Protestantismus in der Gegenwart“ (S. 171f.).
„Die drei Erscheinungsformen – eine auf die Bildung zum kirchlichen Beruf gerichtete Form, eine auf akademische Spezialdiskurse gerichtete Form und eine auf die Öffentlichkeitsrelevanz des Christentums gerichtete Form – finden sich gegenwärtig auch in der Theologie überhaupt wieder, sowohl in den einzelnen Disziplinen als auch in der Theologie als ganzer“. Für die Praktische Theologie bedeute das, „sich selbst sowie der Theologie als ganzer die jeweils in den Blick genommenen Gegenstände, Themen und Methoden sowie den Zusammenhang dieser drei Erscheinungsformen zu begründen.“ (S. 172) Nach Albrecht ist das das von Anfang an vertraute Phänomen, dass die Inhalte und Verfahrensweisen der Praktischen Theologie „sich weniger stark von selbst verstehen als das für die anderen theologischen Disziplinen der Fall ist“ (S. 173).
Dieser letzte Abschnitt zum Zweckbezug der Praktischen Theologie endet mit Überlegungen zu einer Praktisch-theologischen Enzyklopädie. Albrecht formuliert mit einem vorsichtigen „vermutlich“ und sieht die „zentrale Aufgabe“ darin, „die Schwerpunkte und den Zusammenhang dieser … Erscheinungsformen zu reflektieren“. Über eine partikulare Binnenwahrnehmung käme man aber nicht hinaus. Ein konstitutionell bedingter blinder Fleck melde sich zurück. Das Fazit ist in gewisser Weise ernüchternd: „Über das Maß anspruchsgemäßer Reichweite und Wirksamkeit der berufsbezogenen, der innerakademischen und der öffentlichkeitsgewendeten Erscheinungsformen der Praktischen Theologie sagt die Enzyklopädie nichts aus – sie vermag es höchstens, diese Frage mit Nachdruck zu stellen“ (S. 173).
Nur: was kann am Ende die Enzyklopädie? Und was ist jetzt mit der „Einheit der Theologie“?
3. Peter Gemeinhardt
Den Reigen der „Praktischen Theologie“ in dem Tagungsband beschließt Peter Gemeinhardt, Kirchenhistoriker an der Univ. Göttingen, mit einer „Antwort“ auf die Überlegungen von Christian Albrecht. „Über die (Un-) Vollkommenheit der Praktischen Theologie – aus der Sicht der Christentumsgeschichte“ (S. 175ff.).
Betonte Albrecht immer wieder die „Beleihungen“ der Praktischen Theologie bei den anderen theologischen Disziplinen, findet Gemeinhardt , dass der Fachvertreter „positiver einschätzen“ könnte, dass in allen Disziplinen die „Grundlagenreflexion“ eine große Bedeutung habe – nicht nur in der Praktischen Theologie. Das Bild von der „Krone“ (Schleiermacher, 1. Aufl.) ist natürlich ein gefundenes Fressen, noch einmal über Stämme , „Blätter und die Photosynthese
nachzudenken. Gemeinhardt konzediert der Praktischen Theologie jedenfalls „Hellsichtigkeit“ und „diagnostische Kraft“, die hilfreich sei für die „Transferprozesse“ der christentumsgeschichtlichen Arbeit – insgesamt (S. 176).
Gemeinhardt hat auf der Tagung begründet, warum er von „Christentumsgschichte“ und nicht von „Kirchengeschichte“ spricht. Die Christentumsgeschichte sei eine „historische Ernüchterungs-, Erfahrungs- und Orientierungswissenschaft“, die ihrerseits das Gebiet der Praktischen Theologie „berührt“ – „auch im Blick auf heutige Rezeptionsbedingungen, Erwartungshaltungen und Verwertungszusammenhänge“ (S. 177).
Die „Spannung zwischen der Formulierung von ‚Kunstregeln‘ einerseits und der Reflexion der Differenz zwischen theoretischem Lehrbegriff und empirischen Vollzügen christlich-kirchlicher Lebenswirklichkeit“ (S. 176) sieht Gemeinhardt auch für sein Fach. Die Beobachtung, dass „die Praktische Theologie entweder keine eigenständige oder allenfalls eine unselbständige theologische Disziplin“ sei (S. 177), lässt sich auch auf andere Fächer ausdehnen.
Auch historische Forschung steht „unweigerlich in zeitgenössischen Kontexten“ – „in denjenigen Kontexten, die Albrecht für die Theologie insgesamt namhaft macht, also Kirche, Universität und Öffentlichkeit“. Dafür brauche die Christentumsgeschichte auch die „Kompetenz der Praktischen Theologie, jedenfalls wenn es um kirchliche Debatten und um die Öffentlichkeit geht, in der ein theologisches Thema verhandelt wird“ (S. 177). Am Beispiel des Reformationsjubiläums 2017 ließen sich „manche ärgerlichen Dissonanzen“ im Neben- oder Gegeneinander historischer, systematisch-theologischer und praktisch-theologischer Kompetenzen sehen und dass „divergierende Erwartungshaltungen (auch zwischen Kirche und wissenschaftlicher Theologie) unvermittelt kopräsent blieben und bisweilen eruptiv aufeinander prallten“. Im „Gelingensfall“ gibt es keine „einlinige Dominanz, sondern eine wechselseitige Befruchtung“ (S. 178).
Die „Beleihung“, nach Albrecht signifikant in der Praktischen Theologie, gehöre auch in die Christentumsgeschichte. „Die Erforschung von Predigten in der Spätantike tut gut daran, sich mit historischen und gegenwärtigen Theoriebildungen vertraut zu machen, um begrifflich und sachlich hinreichende Tiefenschärfe zu entwickeln“ (S. 178). „Antike und moderne Rhetorik, um bei der Predigt zu bleiben, sind ja selbst miteinander verbundene Größen, so dass sich ein Netz von Bezugsnahmen ergibt, innerhalb dessen die Frage nach der Bedeutung der Rhetorik für die Kommunikation des Evangeliums in alle Richtungen anschlussfähig ist“ (S. 179).
Angesichts der Klage, „die Disziplinen der Theologie drifteten auch deshalb auseinander, weil sie an unterschiedlichen Bezugswissenschaft orientiert seien“ und „zentrifugale Wirkungen“ ausübten, plädiert Gemeinhardt dafür, „innertheologische Anknüpfungspunkte zu identifizieren, die die theologischen Disziplinen und ihre außertheologischen Referenzenzusammenführen“ (S. 179). Als Beispiele nennt er die Kirchentheorie (Praktische Theologie), die für die „Erforschung der Spätantike“ fruchtbar gemacht werden könne, und die religiöse Bildung, „bei der Befunde aus der Vormoderne anhand von Kategorien, die an modernen Sachverhalten gewonnen … werden, helfen können, ein Feld zu kartieren, dem man allein mit dem Handwerkszeug des Althistorikerin oder des Klassischen Philologen nicht (oder nicht differenziert genug) beikommt“ (S. 179).
In einer Schlussbemerkung resümiert Gemeinhardt: „Wenn das Bild vom Baum auf die Theologie angewendet werden soll, dann dahingehend, dass gerade das Miteinander von Stamm, Ästen und Zweigen die Vollkommenheit des Ganzen garantiert. Kein Teil des Ganzen ist für sich vollkommen, sondern jeweils in spezifischer Weise unvollkommen, nämlich in seiner Angewiesenheit auf die anderen. Für die Praktische Theologie hieß das aus meiner Sicht, dass sie nur in dem Sinne unvollkommen ist, in dem es auch die anderen sind. Sofern sie Praktische Theologie ist, steht sie vor besonderen Herausforderungen – sofern sie Praktische Theologie ist, teilt sie dies mit den anderen Disziplinen und sollte sich um ihre Selbständigkeit und Wissenschaftlichkeit nicht über Gebühr sorgen“ (S.180).
Wir wünschen uns jetzt viele Bäume, die in der skizzierten Weite in die Himmel wachsen.
Ökumenische Verantwortung
In dem Tagungsband ist die Evangelische Theologie – mehr oder weniger – unter sich. Gemeint ist die historisch gewachsene und akademisch kontextualisierte Theologie. Dass nicht das ganze Spektrum so gefasst werden kann, verdeutlicht der Beitrag von Dorothea Sattler (Ökumenische Theologie und Dogmatik an der Kath.-Theol. Fakultät der Univ. Münster). Unter dem Titel „Christliche Enzyklopädien in ökumenischer Verantwortung“ (S. 208-224) legt sie „Einblicke in die Forschungsgeschichte“ vor, die den Horizont weiten, sie deckt „Vorentscheidungen“ auf und skizziert „Herausforderungen“ und „Perspektiven“. Dazu gehört, „dass die Geschichte des Christentums im ersten Jahrtausend zur gemeinsamen Tradition gehört“ (S. 217), dass der gesamte christliche „Bildungsbereich von Beginn an mit ökumenischer Sensibilität zu organisieren“ ist (S. 219) und dass „gemeinsam jene Fragen aufzunehmen“ sind, „die den Menschen von heute wichtig sind“ (S.223). In einer kleinen Geschichte der Ökumenischen Bewegung erkundet Sattler die Aufbrüche (S. 221f). Karl Rahner wird von ihr oft zitiert. Er sollte evangelischerseits entdeckt werden! Vielleicht zusammen mit seinem Namensvetter und Zeitgenossen Karl Barth? Hans Urs von Balthasar würde in diesen Reigen dann auch noch gut passen. Eine kleine biografische Enzyklopädie?
Die Frage nach der Einheit der Theologie bleibt offen.
Einen Wunsch hat der Rezensent noch:
In der Systematischen Theologie gibt es die Ekklesiologie, in der Praktischen die Kirchentheorie – was bedeutet das enzyklopädisch? In beiden Disziplinen kostet Kirche übrigens kein Geld. Kirche ist Kirche in der Kraft des Geistes (Moltmann)… Braucht sie mehr nicht? Oder wie sieht die Beziehung von Geist und Geld aus? Eine Betriebswirtschaftslehre für Kirche(n), Gemeinden und Werke ist ein Desiderat. Könnte es so etwas geben wie eine Koinzidenz von Theologie und BWL –mit Seitenblick auf Nikolaus von Kues? Was heißt, ein (z.B.) Neues Kirchliches Finanzwesen einzuführen, kaufmännisches Denken in ekklesialen Kontexten zu implementieren und „Kundenorientierung“ in Gottesdienst, Seelsorge und Diakonie zu denken? Hier laufen viele theologische Linien zusammen. Lässt sich die „Einheit der Theologie“ in der Öffentlichkeit womöglich auch mit Zahlen vorstellen? Ein Haushaltsbuch als theologisches Dokument lesen? „Leerstellenanalyse“ eingeschlossen?
Hagenbach beschließt seine Enzyklopädie ebenso süffisant wie provokativ:
„Es ist viel über das Verbauern und Versauern der Geistlichen geredet worden. Es gab eine Zeit, wo man mehr gute Bienenväter als Kirchenväter, mehr gute Blumen- und Viehzüchter als gute Menschenerzieher unter den Geistlichen fand, die besser in der Baumschule als in ihrer Dorfschule, besser in ihren Hausställen als in der Schafhürde Christi bewandert waren… Ein Pfarrer, der in diesem Sinne nicht ‚ausstudiert‘ hat, sollte lieber nicht Pfarrer sein. Seine Studien sollen, mit einem Wort, nicht getrennt sein von seinem praktischen Leben… nein, er darf dem Entwicklungsgange der theologischen Wissenschaft zu keiner Zeit fremd bleiben… seine Gemeinde trage er auf dem Herzen, ihr komme Alles wieder zu gute, und aus der feinsten Frucht der Wissenschaft wisse er wieder Samen für sein Ackerfeld zu gewinnen“ (S. 546). In einer Anmerkung formuliert H. sogar: „Wer also nicht einen gehörigen Fonds in sich trägt, wird als Pfarrer nur ein leidiger Tröster, ein Schwätzer oder ein stummer Hund sein“ (Anm. 4, S. 547).
Da Prediger und Predigerinnen geborene Enzyklopäden sind, danken sie den Herausgebern und BeiträgerInnen für eine kühne Tour durch die Theologie, sie wünschen den Lesern Neugier und der neu entdeckten „Enzyklopädie“ ein großes Staunen: was sie alles können soll…