Leben als Fragment
Henning Luther: Leben als Fragment. Gesammelte Aufsätze I / II, Radius-Verlag Stuttgart 2023, kartoniert 420 / 395 S., jeweils 24,-- €, ISBN9783871738692 / 9783871738708
Ich gestehe: im Studium und im weiteren Verlauf meines universitären und pfarrerlichen Lebens spielte Henning Luther keine Rolle. Leider. Woran auch immer das lag (vielleicht war es ganz einfach der Tatbestand, dass ich nur sechs Jahre jünger bin als er), es wäre sträflich, Luthers mannigfache Impulse für Theologie und Kirche nicht wahrzunehmen. Und so bin ich sehr froh, dass Braune-Krickau (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Tobias_Braune-Krickau) diese insgesamt – wenn ich recht zählte – 44 Aufsätze gesammelt herausgab und unter der Überschrift „Theologie als Lebenselement“ zu ihnen hin- und in sie einführt. Sie ersetzen zwar kein Gesamtwerk (vgl. dazu in I, S. 407 die wenigen „Hinweise zum Gesamtwerk HenningLuthers“) , aber lassen in den vorgelegten Teilen das Ganze wenigstens erahnen, und damit ist man bereits medias in re. Denn:
Blickt man auf sein eigenes Leben oder auf das Schicksal vieler Menschen und denkt etwas nach, dann muss man ehrlicherweise zu der Erkenntnis kommen, dass das Leben letztlich am sachgerechtesten als fragmentarisches begriffen wird. Irgendwo fehlt doch immer ´was, hätte man trotz aller Optimierungen und Anstrengungen noch mehr erreichen können. Der leider viel zu früh verstorbene Praktische Theologe Henning Luther(er lebte nur von 1947-1991) führte in dem in seinem Todesjahr erschienenen letzten Aufsatz den Begriff vom „Leben als Fragment“ wirkmächtig in die evangelische Theologie ein. Seine Aufsatzsammlung in zwei Bänden verwendet eben diesen Begriff völlig zu Recht als Titel.
Nur in Klammern sei vermerkt: Luther erfand diesenBegriff nicht, sondern folgt darin Dietrich Bonhoeffer (siehe z.B. https://elisabeth-juenemann.de/wp-content/uploads/2023/06/Leben_als_Fragment.pdf), Robert Musil („Das angeblich voll ausgelebte Leben ist in Wahrheit ungereimt, es fehlt ihm an Ende, und wahrhaftig am wirklichen Ende, beim Tod immer etwas.“ I, S. 20) und anderen. Und nicht zu vergessen sind die biblischen Quellen dieses Gedankens und ihren theologischen Kontext. Luther weiß sehr genau darum, und er formuliert- quasi als seelsorglichen Merksatz: „Wir sind immer zugleich auch gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit,Fragmente zerbrochener Hoffnungen, verronnener Lebenschancen, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen.“ (I, S. 25)
Die Aufsätze wurden folgenden Bereichen zugeordnet: Religion und Identität, Predigt und Seelsorge, Predigt und Gemeinde, Pfarramt und Gemeinde, Jugend und Konfirmation, Religiöse Bildung und Theologiestudium. Manche Zuordnung könnte man auch anders entscheiden. Sei´s drum. Die Texte an sich sind wichtig, auch die editorischen Grundsätze und die Angaben zu den Erstveröffentlichungen.
Auf den mit Ursula Baltz verfassten Aufsatz „Von der Angewiesenheit des Theologen auf literarische Kultur“ (I, S. 301-309 möchte ich mit einer dicken Unterstreichung hinweisen. Denn schon immer befanden sich Theologie und Predigt in engster Nachbarschaft zur Literatur. Gewiss profitierte mancher Poet und Schriftsteller von Theologie und Kirche. Aber der Gewinn dieser Nachbarschaft liegt ist eindeutig aufseiten von Theologie und Kirche.
Außerdem finden sich im Teil „Texte zur Praktischen Theologie“ ein Aufsatz zu Werk und Konzeption Friedrich Niebergalls, vier Rezensionen und ein Aufsatz zu „Individualität und Kirche in Schleiermachers Verständnis Praktischer Theologie“.
Sucht man nach einer Mitte der Luther´schen Texte, so findet man diese am ehesten im religiösen Subjekt und seiner Individualität; expressis verbis in „Individuum und Individualismus (I, S. 35-40).Diese Mitte vorausgesetzt, wäre es interessant kritisch zu prüfen, ob und inwieweit neben dem Ich der Gegenpol, nämlich das Wir der Gemeinschaft / Gemeinde nicht vernachlässigt wird.
Dr. Gerhard Maier