Bethesda - Haus der Güte
19. Sonntag nach Trinitatis. Eine Predigtanregung zu Johanne 5,1-16
in: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt, 125. Jg., Heft 9, September 2025
von Dr. theol. Heinz Janssen, Dozent für Biblische Studien an der Moriah Theologischen Hochschule in Tangerang b. Jakarta/Indonesien, und Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Bethesda
Professor Dr. Dr. h. c. Manfred Oeming zum 70. Geburtstag
Krankheit, Einsamkeit, Heilung und Jesu umstrittenes Wirken sind die Themen des Predigttextes zum 19. Sonntag nach Trinitatis, sie gehören überhaupt zum elementaren Themenbereich biblischer Theologie, des Alten und Neuen Testaments, geht es doch darin um das umfassende Heil Gottes, Gottes שָׁלוֹם, für seine Schöpfung. Von diesem Gott sagt Jesus Christus, dass er als sein Vater „bis auf diesen Tag“ wirkt und auch er, mit ihm eins, als sein Sohn wirkt (Joh 5,17).[1]
Kontext
Die Perikope von der Heilung eines Kranken am Teich Bethesda folgt auf „das zweite Zeichen“, das Jesus in Galiläa tat. Auf der Hochzeit zu Kana verwandelt Jesus zuerst Wasser in Wein und trägt damit zur Festfreude bei (Joh 2,1-11), und dort rettet er das todkranke Kind eines königlichen Beamten (Joh 4,46-54). In beiden Zeichen, so die Interpretation des Evangelisten, offenbarte Jesus seine „Herrlichkeit“, wörtlich in Entsprechung zu hebräisch כָּבוֹד: sein „Gewicht“ / „Ansehen“/ „Glanz“ als „Abglanz“ (δόξα) von Gott (Joh 2,11). Auf der Hochzeit zu Kana, dem ersten Zeichen, weckte Jesu wunderhaftes Tun den Glauben seiner Jünger an ihn (2,11), der Vater des Kindes glaubte dem Wort (λόγος) Jesu, der Zusage, dass der Sohn lebt (4,50). Nicht der Wunderglaube, sondern der Glaube, das Vertrauen auf das Wort Jesu hin bestimmt ebenso die Erzählung von der Heilung des Kranken am Teich Bethesda.
Abgrenzung der Perikope und Gliederung
Die Perikopenabgrenzung (Joh 5,1-16) lässt die Verse 17 und 18 aus, jedoch zu Unrecht, denn sie schneidet die eigentliche johanneische Pointe ab: Jesu „Aufwecken /Aufstehen lassen“ (ἔγειρε, V. 8; vgl. V. 21) des Kranken gehört zu den „Zeichen“ Jesu, die auf sein mit Gott, seinem Vater, einiges „Wirken“ (ἐργάζομαι, V. 17) hinweisen.[2]
Die Erzählung umfasst nach der Exposition (V. 1-4 Situationsschilderung) sechs Szenen[3]: 1) V. 5-9 Jesus heilt am Sabbat einen Kranken, 2) V. 10-13 Auseinandersetzung um die Heiligung des Sabbats, 3) V. 14 Jesus findet den Geheilten im Tempel und gibt sich ihm zu erkennen, 4) V. 15 Der Geheilte gibt bekannt, wem er die Heilung verdankt, 5) V. 16.18 Die Verfolgung Jesu beginnt, Vorwurf: Bruch des Sabbatgebots und seine Präsentation als Sohn Gottes als seines Vaters, 6) V. 17 Jesus antwortet seinen Kritikern und betont die Einheit seines Wirkens mit Gott, seinem Vater, was auch Thema in den Versen 19-47 ist, in die das Kapitel mündet.
Exegese[4]
Die Heilung des Kranken (V. 1-9) geschieht an einem von fünf Säulenhallen umgebenen Teich in Jerusalem beim Schaftor[5] (V. 2) – an einem Sabbat, wie die Hör- und Lesecommunio erst nach der Heilung erfährt (V. 9b); erreicht damit der Autor des Vierten Evangeliums, den Sabbat in einem neuen Licht zu sehen und die in V. 10 folgende Auseinandersetzung um die in der Tora geforderte Heiligung des Sabbats, was zu tun und zu lassen sei, zu relativieren?[6] Lässt er so das Jesuswort (Mk 2,28) anklingen: „So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat“, und gibt er den fünf Säulenhallen allegorischen, sich auf die fünf Bücher der Tora beziehenden Sinn?
Jesus fällt nicht mit der Tür ins Haus. Er sieht den Kranken und hört von seiner langen Leidenszeit, dann erst wendet er sich ihm zu, hilft auch nicht gleich, sondern fragt ihn: „Willst du gesund werden?“ (V. 6). Auf die verzweifelte Antwort des Kranken, „Herr, ich habe keinen Menschen“ (V. 7), ergreift Jesus die Initiative und spricht zu ihm: „Steh auf, nimm deine Liege und geh hin!“ (V. 8). Der Kranke steht auf und wird sogleich gesund, und er kann „hingehen“ (V. 9), so die Übersetzung Martin Luthers (im Sinne von „weitergehen“ / „seinen Weg gehen“), die hier der wörtlichen Bedeutung von περιπατεῖν („umhergehen“)vorzuziehen ist; denn der Kontext lässt kaum an ein demonstratives „Umhergehen“ des Geheilten coram publico denken, um Aufmerksamkeit zu erlangen oder seinen Helfer zu ehren, zumal er Jesus noch nicht kannte.
Für den Ort der Heilung sind zwei Namen überliefert: „Bethesda“ (Βηθεσθά) und „Bethzatha“ (Βηθζαθά).[7] Dem griechischen Namen Βηθεσθά entspricht die hebräische bzw. aramäische Wendung חִסְדָּאבֵּית, sie bedeutet „Haus der Güte“.[8] Durch Jesu Wirken wird der Ort zu einem Haus, in dem ein kranker Mensch mitfühlende Zuwendung, Hilfe und Heilung findet.
Die Heilung geschieht an einem Sabbat (V. 9b). Ohne sich auf eine Diskussion über die Sabbatheiligung einzulassen (V. 10.18), teilt der Geheilte denen, die Anstoß an dem Geschehen nahmen, nur mit, dass er lediglich den Anweisungen eines Menschen gefolgt sei, seine Liege zu nehmen und „hinzugehen“ (V. 11). Nicht einmal ihre Frage, wer dieser gewesen sei, konnte er beantworten (V. 13). Die Frage nach dem Helfer und einem vielleicht gesetzwidrigen Tag der Hilfe stellte sich ihm nicht. Nur die Gemeinde der Hörenden und Lesenden des Evangeliums wissen von Anfang an, von wem die Rede ist und sein wird, gleichsam als in diese Dramaturgie des Weges Jesu und des Glaubens an ihn Eingeweihten und selbst Gefragte, wer für sie Jesus sei.
Die erlebte Heilung führt den Gesunden in den Tempel (V. 14). Ohne dass es ausdrücklich vermerkt wird, ist sein Beweggrund klar: Gott zu danken. Dort im Tempel findet ihn Jesus. Jesus selbst gibt sich ihm zu erkennen. Jesus spricht ihn auf seine Gesundung an und verbindet damit überraschend die Aufforderung, „nicht mehr zu sündigen, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre“ (V. 14). 38 Jahre lang hat es bis zu diesem Zeitpunkt einer heilsamen Wende gedauert. Die genaue Zahl, zumal eine ungerade, weist auf die leidvolle Krankheitsgeschichte jenes Menschen hin (V. 5); erinnert diese Zahl die Bibelkundigen, die der Autor voraussetzt („Ihr erforscht [ἐραυνᾶτε] die Schriften“, Joh 5,39), an die 38 Jahre des Unterwegsseins der Israeliten in der Wüste von Kades Barnea bis zum Überschreiten des Flusses Sared (5. Mose 2,14), und dass sie Gott wegen ihrer Sünde so lange Zeit vom Gelobten Land hat abhalten müssen?[9] Die Frage Jesu an den kranken Menschen, ob er gesund werden wolle (V. 6), bekommt jetzt erst durch die Aufforderung, nicht mehr zu sündigen (V. 14), ihren Sinn, steht doch für einen kranken Menschen sein Wunsch, geheilt zu werden, außer Frage. Gesundwerden ist aber in den Augen Jesu mehr als Genesung von einer körperlichen oder psychischen Krankheit; Jesus sieht „den ganzen Menschen“ (ὅλον ἄνθρωπον, Joh 7,23) in seiner wesenhaften Beziehung zu Gott. Das griechische Wort ἁμαρτάνειν, dem das hebräischeחטא entspricht, bedeutet „ein Ziel verfehlen“. Jesus spricht den Menschen auf das eigentliche Ziel hin an, seine schöpfungsgemäße Bestimmung; dieses Ziel zu verlieren, würde „Schlimmeres“ (V. 14) bedeuten als Alles, was uns sonst im Leben geschehen kann – bezieht sich darauf Cornelius Beckers Gebet: „Herr, tu bei mir das Beste, sonst ich zuschanden werd“?[10]
Über die Reaktion des Menschen auf die Aufforderung Jesu, nicht mehr zu sündigen, erfahren wir nichts, nur, dass er „wegging“ (ἀπῆλθεν) zu den Juden und ihnen „zurückberichtete“ (so wörtlich ἀνήγγειλεν)[11], dass es Jesus sei, der ihn gesund gemacht habe (V. 15). Wahrscheinlich sind diese Leerstellen beabsichtigte literarische Strategie des Autors, denn dadurch stellt er die Hörenden und Lesenden vor die Frage, wie sie selbst ihre momentane Situation sehen, wohin sie selbst hingehen wollen[12] und ob sie eine überraschende „gütige“ Wendung (Bethesda!) in ihrem Leben als Glaubenserfahrung weitergeben, die im einigen Wirken Gottes und Jesu (ἐργάζεται κἀγὼ ἐργάζομαι, V. 17) gründet. Gefragt sind sie auch, ob sie den Streit um Jesus (V. 16.18) standhalten und den Mut haben zu bezeugen, was sie dem Gottessohn verdanken. Ohne die Verse 17.18 bleibt der besondere Blick des Autors bzw. der Autorencommunio des Vierten Evangeliums auf Jesus Christus als dem Sohn in der Einheit mit Gott, seinem Vater, außen vor und verfehlt darum die Intention der Erzählung von der Heilung am Teich Bethesda in Jerusalem.
Die Heilungszene spielt „an einem Fest der Juden“ (ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων), zu dem Jesus nach Jerusalem hinaufzieht (V. 1). Welches Fest es war, erfahren wir nicht. An einer Näherbestimmung sind allerdings schon frühe Handschriften interessiert und setzen vor ἑορτήden Artikel ἡ. War es das Pesachfest (vgl. Joh 6,4) oder das Laubhüttenfest (vgl. Joh 7,2 ἡ ἑορτὴ τῶν Ἰουδαίων ἡ σκηνοπηγία)? Wäre an das Pesachfest zu denken, wäre damit schon der Weg Jesu ans Kreuz – nach dem JohEv Jesu „Erhöhung“ – angedeutet, und die mit Joh 5 beginnenden Auseinandersetzungen um Person und Wirken Jesu führten zum Passionsgeschehen (Joh 11,46ff.). Wäre das Laubhüttenfest gemeint, würde an den Auszug der Israeliten aus Ägypten und ihren 40jährigen Weg durch die Wüste und ihr provisorisches Wohnen in mit Zweigen und Blättern gebauten Hütten erinnert, auch als Dank für die eingebrachte Ernte im Gelobten Land. Wahrscheinlich ist die Unbestimmtheit des Festes in Joh 5,1 vom Autor beabsichtigt und soll den Weg Jesu nach Jerusalem motivieren.[13]
Homiletische Impulse
Die sechs Szenen in Joh 5,1-18 bieten verschiedene homiletische Impulse, sie können in einer 15- bis 20minütigen Predigt verständlicherweise nicht alle aufgenommen werden; die Auswahl sollte aber V. 17, die theologische und christologische Mitte der Perikope, jeweils im Blick haben.
V. 2: „ein Teich Namens Bethesda“ – Der Teich in Jerusalem war wie ein Wallfahrtsort bekannt, an dem sich viele schwer Erkrankte Heilung erhofften, wenn sie zur rechten Zeit ins Wasser stiegen. Aber nur wenn das Wasser sich bewegte, soll es heilend gewirkt haben. Es gab also Bedingungen.[14] Wer in seiner Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt war, konnte nicht schnell genug ins Wasser steigen, andere kamen ihm zuvor. Darum die verzweifelte Antwort des Kranken auf die Frage Jesu, ob er gesund werden wolle: „Herr/Kyrios, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser ich bewegt“ (V. 7).[15] Jesus verändert die Bedingungen und die Perspektiven: Der Kranke muss nicht ins Wasser hinabsteigen, sondern nur aufstehen, seine Liege nehmen, die ihn jahrelang daran gehindert hatte, und gehen (V. 8).
„Bethesda“ – „Haus der Güte“, des gegenseitigen Wohlwollens, des gemeinschaftsgemäßen Verhaltens. Die sich an Gott-Vater und Jesus, Gottes Sohn, orientierende und von ihrem Geist inspirierende Kirche versteht sich als ein solches Haus, in dem Menschen in ihrer Bedürftigkeit gesehen werden und Hilfe erfahren, miteinander leben und füreinander da sind. Kirche wird stets an einem solchen Haus bauen, um den aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden. Kirche kann zu einer heilsamen und heilenden, „therapeutischen“ (V. 10 θεραπεύειν) Gemeinschaft werden, wenn wir einander in „Lachen oder Weinen“[16] verbunden bleiben und füreinander sorgen, indem wir auf das Wohl von Seele und Leib achten.[17]
V. 3b-4: „Denn der Engel des HERRN…“ – In einer späteren Überlieferung der Erzählung von der Heilung des Kranken am Teich Bethesda finden sich die Verse 3b und 4, die in der Perikope ausgelassen sind: „Sie warteten, darauf, dass sich das Wasser bewegte. Denn der Engel des HERRN fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt“.[18] Von beschützenden Engeln, himmlischen Boten in Gottes Dienst, weiß die Hebräische bzw. Griechische Bibel.[19]
V. 6: „Willst du gesund werden?“ – Der Sinn der Frage im Kontext der Perikope erschließt sich erst in V. 14 durch Jesu Aufforderung an den Geheilten, „sündige hinfort nicht mehr“. Es geht um die Heilung des „ganzen Menschen“ (Joh 7,23), und dies im Sinn des Wochenspruchs: „Heile du mich, HERR, so werde ich heil; hilf du mir, so ist mir geholfen“ (Jer 17,14).
V. 7: „…wenn das Wasser sich bewegt“ – Wenn die Kirche sich bewegt…![20] Quo vadis, ecclesia? Wohin geht, bewegt sich die Kirche? Wovon lässt sie sich bewegen? Bleibt sie auf die Erneuerungsbedürftigkeit im Sinne des reformatorischen „ecclesia semper reformanda est“ bedacht? Am 1. Advent 2025 sind Kirchenwahlen. Aufgerufen sind Menschen, die im „Schiff, das sich Gemeinde nennt“[21], eine Aufgabe und Mitverantwortung übernehmen; um sie werben Slogans wie: „Menschen zur Mitarbeit motivieren“, „Ohne Kirche fehlt was“, „Menschen mit Herzblut gesucht“.
„Ich habe keinen Menschen“ – Wer sieht den Menschen, der so klagt? Wer hört seinen Hilferuf? Wieviele Menschen sehen sich heute in einer solchen beklagenswerten Situation, fühlen sich einsam, sind verzweifelt und sehnen sich nach einem Menschen, der sie sieht und sie in ihrer Not wahrnimmt. Sie fragen uns: Wie leben wir füreinander und miteinander?, so dass sie sagen können: „Ich habe einen Menschen“, der da ist, wenn ich ihn brauche, der Leid, auch Freude, mit mir teilt. „Keinen Tag soll es geben. Da du sagen musst: Niemand ist da, der mit mir Wege geht…“, heißt es in einem Lied.[22] Für eine Predigt, die das sozial-caritative-diakonische Handeln in den Blick nimmt, empfiehlt es sich, auch die Menschen zu würdigen, die in diesem Bereich tätig sind und die aktuellen Herausforderungen zu benennen.[23]
V. 9b.10.18: „Es war aber an dem Tag Sabbat“ – Der Sabbat, der für den Menschen gemacht ist (Mk 2,27), darf kein Hindernis sein, wenn es um Gottes heilendes Wirken geht, das allein Jesu Auslegung der Tora bestimmt (Mk 2,28). Auch wenn Gott von seinem Schöpfungswerk ruht (שׁבת)[24], worauf sich die Gegner Jesu berufen und dessen Missachtung des Sabbatgebotes begründen, bezeugt Jesus Gottes beständiges Weiterwirken und sein einiges Wirken mit ihm (V. 17).
V. 10 „die Juden“ (οἱ Ἰουδαῖοι, wie in V. 1.12.15-18) gehören wie die anderen Personen zu der Figurenkonstellation der Erzählung Joh 5,1-18. Darum sollte ihre Nennung keinen Anlass zu einer antijüdischen Debatte geben, die der Evangelist (Joh 4,22: „Das Heil kommt von den Juden“) – entgegen einer langen fatal wirkenden christlichen Auslegungstradition des Johannesevangeliums – nicht voraussetzt.[25]
V. 14: „Danach fand ihn Jesus im Tempel“ – Viele Menschen besuchen heute offene Kirchen, halten inne zu einem stillen Gebet des Dankens, Bittens oder Seufzens, zünden eine Kerze an. Halten wir die Kirchentüren, auch die Türen unseres Herzens, offen!
V. 17: „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch“ – Noch ist Zeit, „bis auf diesen Tag“. Deutet Jesus damit ein Aufhören seines Wirkens an? Darauf weist Jesus in Joh 9,4: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“. Darum gilt es, die (verbleibende) Zeit als geschenkte Zeit zu nutzen und den richtigen Zeitpunkt (vgl. Epheser 5,16: καιρός) zu erkennen, „carpe diem“. Wo und wie ist mein / unser Wirken heute gefragt, im „Heute Gottes“?
[1] Ich widme meinen Beitrag dem international renommierten Heidelberger Alttestamentler Manfred Oeming in bleibender Dankbarkeit. Als mein Doktorvater hat er mich in meiner Liebe zum Alten Testament bestärkt, begleitet und mir auch Lehraufträge anvertraut. Biblische Exegese und Predigt, Forschung, Lehre und Verkündigung gehören für Manfred Oeming, seit er als Pfarrer in Bonn wirkte (1988 – 1991), zu seinem Berufsethos. Darum hält er als Universitätsprediger an der Peterskirche in Heidelberg regelmäßig Gottesdienste und übernimmt außerdem pastorale Dienste in der Urlaubsseelsorge. Zu dem vielseitigen wissenschaftlichen Oeuvre des Exegeten, dem die Frage nach den traditionsgeschichtlichen und theologischen Verbindungslinien zwischen Altem und Neuem Testament wichtig sind, gehören ein Psalmenkommentar (NSK AT 13,1-3 [Bd. 2 und Bd. 3 zusammen mit Joachim Vette], Stuttgart 2000; 2010; 2016),Studien zum Buch Hiob (zusammen mit Konrad Schmid: Hiobs Weg. Stationen von Menschen im Leid, BThSt 45, Neukirchen-Vluyn 2001), eine Einführung in die biblische Hermeneutik (Darmstadt 42013), zahlreiche Aufsätze zur alttestamentlichen Theologie, Anthropologie und Ethik, von ihm hg. Sammelbände sowie – als Leiter von Ausgrabungen in Aseka/Israel – zur Archäologie. Sein Interesse gilt außerdem der zwischentestamentlichen Literatur, und der jüdisch-christliche Dialog ist ihm ein Herzensanliegen. Der akademische Lehrer überschreitet bewusst das eigene Fachgebiet, um an den anderen theologischen Disziplinen anzudocken, auch an der Philosophie und den Humanwissenschaften, unter letzteren besonders der Psychologie. Was für den Lehrer in Theologie und Kirche „theologische Existenz“ bedeutet, finde ich in Michael Fishbanes Worten zusammengefasst (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Manfred Oeming und Udo Richter: M. Fishbane, Einstimmung auf das Heilige. Eine jüdische Theologie, Freiburg im Breisgau 2023, S. 32): „Theologie ist ein heiliges Unterfangen, das mit Ehrfurcht und Redlichkeit angegangen werden muss. Denn sie ist der immer neue Versuch, von der Wirklichkeit Gottes zu sprechen und das eigene Selbst auf diese Wahrheit hin zu lenken. So gesehen ist Theologie eine spirituelle Übung höchsten Ranges“. Jetzt steht seine Emeritierung bevor, aber seine Forschungsvorhaben werden durch die Entpflichtung von regelmäßigen Lehrveranstaltungen, Gremienarbeit und Verwaltung neuen Schwung bekommen. Frohes Schaffen, ad multos annos!
[2] Eine von vielen Exegeten empfohlene Umstellung der Kapitelfolge Joh 5 nach Joh 6, sodass sich Joh 6,1 als unmittelbare Fortsetzung von Joh 4,54 ergäbe und die unmotivierte Rückreise Jesu von Jerusalem (Joh 5,1) nach Galiläa (Joh 6,1) sich erklären ließe, ist nicht nötig, zumal eine andere Kapitelfolge nicht bezeugt ist. So mit Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 22015, S. 292, vgl. S. 294: „Auf diese Weise erscheint Joh 5 als eine Art großer Parenthese zwischen den galiläischen Szenen 4,43-54 und 6,1ff.“.
[3] In den Kommentaren finden sich unterschiedliche Gliederungen.
[4] In der Forschung ist die Frage nach der literarischen Eigenart des Vierten Evangeliums und dessen Entstehung, besonders seit Rudolf Bultmanns Kommentar (Das Evangelium des Johannes, KEK II, Göttingen 101941; Nachdruck 201978) nach wie vor umstritten. In der neueren Forschung gibt es – im Unterschied zu traditions- und redaktionsgeschichtlichen sowie literarkritischen Zugängen – Tendenzen zur einer „narrativen“ Exegese, die in der literarischen Erzählwelt auf die Dynamik der durch den Konflikt zwischen Glaube und Unglaube als Reaktion auf Jesus vorangetriebene Handlung achtet (so z. B. R. A. Culpepper, Anatomy oft the Fourth Gospel, Philadelphia 1983, S. 97; H. Thyen, a. a. O., S. 302). Auch findet die intertextuelle Arbeit des Evangelisten, seine in der älteren Forschung in Frage gestellte Beziehung zum Markus- und Lukasevangelium besondere Beachtung. Ich sehe die verschiedenen Zugänge nicht alternativ oder sich gegenseitig ausschließend, sondern als Wege zum Verstehen, deren Plausibilität sich nur an den Texten selbst erweisen kann. Aber auch, was plausibel erscheint, gehört für eine solide Exegese in den Bereich des Vorläufigen.
[5] Wahrscheinlich ist zu ἐπὶ τῇ προβατικῇ das Nomen πύλη („Tor“, „Tür“) zu ergänzen, so dass sich die Übersetzungergibt: „Es liegt aber in Jerusalem beim Schaftor ein (Bade-)Teich, der hebräisch Bethesda heißt“; vgl. zur umstrittenen griechischen Textüberlieferung von Joh 5,2 H. Thyen, a.a.O., S. 294f.; die Auslassung von πύλη kann auf den umgangssprachlichen Gebrauch und auf die persönliche Vertrautheit mit dem Ort zurückzuführen sein (B. Lindars, The Gospel of John, NCeB, London 1972, S. 212); Reste des alten „Schaftores“ wurden inzwischen beim heutigen „Stephanstor“ gefunden, auch in seiner Nähe (bei der Kirche St. Anna) wahrscheinlich auch die in Joh 5,2 genannte κολυμβήθρα („Teich“, „Schwimmbassin“, „Badeanstalt“), s. Thyen, a.a.O., S. 295.
[6]Joh 5,10-13, vgl. Ex 20,10; Mk 2,23-28; 3,1-6 par.
[7] Ges18 375; die griechischen Handschriften schwanken zwischen dem (im Codex Sinaiticus, 4. Jh., bezeugten) Βηθζαθά (so in Nestle-Aland) und dem Βηθεσθά („Bethesda“, so von den meisten deutschen Übersetzungen seit Martin Luther rezipiert; der Lesart Βηθζαθά folgt das Münchener Neue Testament: „Bethzatha“). Möglicherweise ist Βηθζαθά identisch mit der nördlichen und später eingegliederten Vorstadt Jerusalems, s. dazu den Hinweis von R. Bultmann, a. a. O., S. 179f.
[8] So die eigentliche Bedeutung des hebräischen Nomens חֶסֶד. Der in unterschiedlichen Kontexten verwendete Begriff setzt „ein schon bestehendes Verhältnis zwischen Handelndem und Empfänger voraus“, zum anderen besitzt er häufig das Moment des Überraschenden und Beglückenden […], eine Großherzigkeit oder unerwartete Freundlichkeit“ (Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, S. 286).
[9] Vgl. Timo Veijola, Das 5. Buch Mose. Deuteronomium, ATD 8,1, Göttingen 2004, S. 47f.
[10] EG 295,3. – Jesu Ausspruch in Joh 9,3 („Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“) muss nicht als Widerspruch bzw. Korrektur zu Joh 5,14 gehört und gedeutet werden, als ob Jesus, wie oft vertreten (z. B. von R. Bultmann, a. a. O., S. 182; Hermann Strathmann, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1963, S. 98) den Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde grundsätzlich ablehne und ausdrücklich zurückweise; vielmehr betont Jesus dort das Offenbarwerden der Werke Gottes; so z. B. mit H. Thyen, a. a. O., S. 297; vgl. Jean Zumstein, Das Johannesevangelium, KEK 2, Göttingen 2016, S. 2015f.
[11] Andere Handschriften bieten ἀπήγγειλεν und präsentieren damit den Geheilten als jemanden, den seine Heilung veranlasst, (Jesus und sein Wirken) zu „verkündigen“.
[12] Vgl. Joh 6,68 „Herr/Kyrios, wohin (wörtlich zu wem) sollen wir weggehen“ (auch hier wie in Joh 5,15 begegnet das Verbum ἀπέρχομαι).
[13] H. Thyen, a. a. O., S. 293f.
[14] Vielleicht wurde das Wasser von Zeit zu Zeit, wie es vom Siloateich bekannt ist, durch eine aufsprudelnde Quelle (vgl. die Gihonquelle, 1. Kön 1,33.38) „aufgerührt“ (V. 7 ταράσσω).
[15] Klingt in der Anrede„Kyrios“, im Mund des Kranken eine allgemeine menschliche Anrede, bereits ein christologischer „Hoheitstitel“ für Jesus an?
[16] Lied EG 170.
[17] Wurde das Wort „Heil“ in unserer christlichen Tradition nicht zu einseitig spiritualisiert und dabei vergessen, dass Gott das Heil für Seele und Leib will?
8
[18] S. Nestle-Aland, 28. Aufl., kritischer Apparat zu den Handschriften.
[19] 1. Mose 28,10-22; Psalm 34,8; 91,11; 103,20f. u. a.; H. Thyen, a. a. O., S. 297, weist auf Thornton Wilders hin: „Der Engel, der das Wasser bewegte“.
[20] „Kirche in Bewegung“ war das Motto der Kirchenwahl im Jahr 2001.
[21] Lied EG 609, Regionalteil Baden, Elsass und Lothringen, Pfalz.
[22] Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder. Anhang zum Gesangbuch der Evangelischen Landeskirche in Baden, München 2018, Nr. 167.
[23] Manfred Oeming, Klaus Scholtissek (Hrsg.), Diakonie neu vermessen – biblisch, ethisch, praktisch, Bd. 1, VWGTh 76, Leipzig 2025.
[24] 1. Mose 2,2f.; 2. Mose 20,11; 31,17.
[25] Vgl. H. Thyen, a. a. O., S. 302.