Wenn heute unter uns Viele sind, die sagen wollen: „Nein, nein, Ungerechtigkeit würde ich niemals dulden. Ich bin immer für die Gerechtigkeit!“, dann würde ich das erst glauben, wenn ich das bestätigt sähe.
I
Wer könnte schon ernsthaft von sich behaupten, immer nur das Gute, immer nur das Richtige zu tun? Auch Jesus weiß, dass wir am liebsten, wenn es ernst werden würde, „kneifen“, so, wie in dieser Erzählung. Ich war verwundert, dass sie heute als Predigtwort vorgegeben ist. Denn eigentlich, das wissen wir: Dieser Ausschnitt aus der Bibel gehört im Kirchenjahr in die Passionszeit. Zu einem irrwitzigen Prozess wird Jesus geführt, erst zum Hohenpriester, der ihn wegen Gotteslästerung anklagt, dann zu Herodes Antipas, dem Alibikönig von Judäa, gebracht, zuletzt zu Pontius Pilatus, der ihn nicht als Gotteslästerer, sondern als Aufrührer gegen die römische Oberherrschaft zum schrecklichen Tod am Kreuz verurteilt.
Warum heute, Anfang November, diese Erinnerung an den Verrat, die feige Verleugnung, die Duckmäuserei des Petrus? Als Jesus davon sprach, dass er verraten, gefangen und verurteilt werden würde, da hatte Petrus geschworen, Jesus niemals zu verlassen, sogar mit seinem Leben für ihn einzustehen. Große Worte der Treue waren das! Und ich vermute sogar, dass es Petrus ernst war damit. Er war von sich selber überzeugt, ein guter Mensch zu sein, der zu seinem Wort steht. So sehen auch wir uns selber am liebsten: mutig, gerecht, anständig, immer bereit zu helfen, wenn jemand in Not gerät.
Denken wir aber daran, dass heute der 9. November ist, ein Tag der Freude, der Tag, als die unüberwindlich geglaubte Mauer in Berlin in sich zusammenfiel, als die Menschen nicht mehr mit Zwang und Schikane daran gehindert werden konnten, über sich selber zu bestimmen, die Wege zu gehen und zu wählen, die sie selber wollten. Stimmt, das ist der eine 9. November in der Geschichte der Deutschen gewesen. Aber es gibt auch den anderen Tag im Leben der Deutschen, unserer Vorfahren, an den wir heute erinnern müssen, das ist der Tag unserer Schande in der Geschichte. Am 9. November 1938 zerstörten ganze Horden von fanatisierten Menschen die Gotteshäuser, die Synagogen ihrer jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen. Es waren organisierte Überfallkommandos der militärähnlichen SA, fanatische Nazis, die Menschen auch in ihren Wohnhäusern überfielen, ihnen schreckliche Angst einjagten, die Wohnungen verwüsteten, raubten, zerstörten, schlugen, angesehene Bürger verhafteten, sie wochenlang in KZs quälten, das Eigentum verwüsteten. Ihre Gotteshäuser wurden angezündet, die heiligen Bücher und Schriftrollen verbrannt. Bis auf die Grundmauern brannten die Synagogen nieder. Die Feuerwehr kam zwar, doch schützte sie auf Anweisung lediglich die umliegenden Häuser, die nicht Juden gehörten. Dieser Tag ist bis heute eine unsägliche Schande für Deutschland.
II
Warum heute noch eine Schande, immer noch? So fragen einige Menschen. Sie wollen nicht an die Schande erinnert werden. Doch wir wissen es, dieser Tag war bloß der Auftakt zu noch weit, weit Schlimmerem: dem organisierte Massenmord. Nicht nur die deutschen Juden wurden bald verfolgt – ob sie religiös, christlich oder nichts geworden waren, alle europäischen Juden, so war der Plan der Nazis, sollten erbarmungslos ermordet werden.Zehn Millionen, so war der Plan! Als in ganz Europa dann sechs Millionen qualvoll ermordet worden waren, war der 2. Weltkrieg endlich beendet, für die Ermordeten zu spät.
Nun, so sagen die Leute: „Das waren doch die Nazis, nicht ich, nicht meine Großeltern, Onkel, Verwandte. Wir waren doch anständig!“ Anständig? So anständig wie Petrus damals im Hof des Pilatus? Er war schließlich ein Augenzeuge, er war immerhin hinter den Soldaten hergelaufen, wollte sehen, was mit Jesus geschieht. Er hatte nichts Schlimmes gemacht, nicht Jesus verhöhnt, so wie es die Soldaten taten. Aber anständig war er nicht. Nein, er tat das, was er wenigen Stunden noch für nicht möglich gehalten hätte. Er verleugnet Jesus! Er steht nicht zu seinem Wort. Er, den sie später den Apostelfürsten nennen, schwört sogar, Jesus überhaupt nicht zu kennen.
Und 1938? Alle, alle, die das Geschehen mit angesehen haben, die im Herzen keine Nazis waren, aber nicht protestierten, sondern nicht halfen, zitternd vor Angst in ihren Häusern saßen und dem randalierenden Mob draußen zuhörten, darf ich sie dafür anklagen? Jeder, jede in Deutschland erkannte das Unrecht, es geschah nicht im Verborgenen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre auch ich nicht eingeschritten, hätte die jüdischen Nachbarn verleugnet, wäre ein Feigling geworden, so wie damals Petrus. Das ist die bleibende Schande, die wir alle nicht abtun können.
III
Ausgerechnet hier in Mosbach machten die Nazis alle Einwohnerinnen und Einwohner zu Mittätern. Sie wurden aufgerufen, am 10. November bei Tag (!) zum Marktplatz zu kommen. Die Schulklassen kamen mit den Lehrern. Sie mussten sogar nach der hetzerischen Ansprache des Bürgermeisters ein Lied singen. Alle standen sie um einen Scheiterhaufen herum. Nein, kein nettes Lagerfeuer war da aufgeschichtet, sondern die Heiligen Schriften, Bibel-Rollen, Gesetzesbücher, Talmud, das Mobiliar der Synagoge, Alles wurde mit Benzin übergossen und angezündet.
Es soll einige gegeben haben, denen es Spaß gemacht hat. Das waren rohe Kerle. Die meisten aber wussten doch, welches Unrecht hier geschah. Ringsum waren die Häuser der Mitbürger und Mitbürgerinnen bereits verwüstet, es gab schwer Verletzte in der Stadt. Einer, der damals noch ein Schüler war, hat mir als alter Mann davon berichtet, wie er vollkommen versteinert dabei gestanden habe. Er war Schüler der ersten Klasse, wusste, dass auch die Erwachsenen wussten, welches Unrecht hier geschah. Niemand widersetzte sich. Das war verstörend für den kleinen Jungen: Niemand, niemand war mehr zuständig für Recht und Ordnung!
Auch mein Vater berichtete mir, er sei dabei gewesen, damals in Bielefeld, als die Synagoge, der ganze Stolz der jüdischen Gemeinde, lichterloh brannte. Seine Großeltern waren mit ihm dorthin gegangen, wohl, um ihm zu zeigen, welche schreckliche Tat dort geschah. Mein Vater war damals 7 Jahre alt.Die Großeltern hielten ihn so fest an der Hand, dass es schmerzte – und sie schwiegen. Sie waren Sozialdemokraten, also Gegner des Regimes, aber sie schwiegen, blieben stumm. Der kleine Junge, der mein Vater war, sprach bis kurz vor seinem Tod nie mehr davon, dass er dabei gestanden hatte, stumm, hilflos, aber im Grunde doch froh, dass nicht er und seine Familie angegriffen wurden.
Alles, alles anständige Menschen, gute Bürgerinnen und Bürger, unbescholten, keine Nazis, Zeugen der Schande! Stumm! Das ist es, woran ich heute in der Predigt erinnern möchte. Nicht nur an die Täter allein, sondern an die, die geschwiegen haben, von denen ganz gewiss auch ich eine gewesen wäre. Deshalb kann und darf ich nicht verurteilen.
Aber was ist denn heute? Schaue ich weg, leugne ich, will ich mich ablenken, wenn ich von Unrecht erfahre? Daran muss ich denken, ob ich nicht doch den Mut aufbringen würde, gegen das Unrecht aufzubegehren.
Lied: „Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehen“