Ihr glaubt es nicht, was ich erlebt habe. Jesu kam und hat mich geheilt. Ich war gelähmt, er hat mich gesund gemacht und auf die Beine gestellt.Lasst mich von vorne erzählen.
I
Jeden Morgen brachten mich die beiden Jungen meines Bruders zum Teich Bethesda. Seit mich ein rücksichtsloser Eselskarrenfahrer umgefahren hat, bin ich gelähmt. Meine Beine wollen mir nicht gehorchen, ich schleppe sie mit, als gehörten sie nicht zu mir. Mein Bruder baute mir eine leichte Trage, seine Jungen trugen mich - jeder an einem Ende anfassend - zum besagten Ort.
Es gibt ein Wasser in der Altstadt von Jerusalem, von dem gesagt wird, dass es Heilkraft habe. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich bin bei Ärzten und Wundertätern gewesen, der eine empfahl dies, der andere das, es hat nichts geholfen. Einer meinte schließlich, es läge an der Psyche und gab mir stimmungsaufhellende Kräuter.
Zwei meiner Neffen brachten mich zum Wasser, jeden Tag, in diesem Jahr werden es 38 Jahre. Am Wasser zu sitzen und auf Heilung zu hoffen ist Alltag geworden. Meine Neffen sind längst erwachsen, deren Kinder übernehmen diese Aufgabe oder sie organisieren zwei Leute für mich. Ich bin froh, dass es überhaupt jemand macht.
Ich lebe im Hause meines Bruder und seiner Familie. Trotzdem fühle ich mich einsam. Ich bekomme, was ich brauche, ansonsten geht jeder seinen eigenen Aufgaben nach. Na ja, die haben auch ihr Leben, was will ich verlangen. Ich habe mich damit abgefunden. Mein Leben verläuft ohne Höhepunkte, Alltag eben, das ist bei Gesunden auch nicht anders. Ich führe eine Randexistenz, das weiß ich, hadern bringt nichts. Ich habe mich darauf eingestellt, ich bin eingerichtet.
Die ersten Jahre habe ich gehofft. Es muss doch besser werden mit den Beinen, es muss doch medizinische Hilfe geben. Die Medizin kommt heutzutage zu weiteren Erkenntnissen. Bei mir hat nichts geholfen. Meine Beine werden nicht gesund werden, damit muss ich mich abfinden, so die Diagnose.
Ich war verzweifelt. Ich habe schlimme Zeiten hinter mir, konnte nicht akzeptieren, dass ich mein Leben lang gelähmt sein soll. Meine Gefühle schwankten. Mal war ich wieder gutes Muts, sah kleine Lichtblicke, dann wieder war ich niedergeschlagen, völlig zerstört, ich lag am Boden. Mein Leben hatte keinen Sinn. Irgendwann war das vorbei, ich weiß nicht, wo genau der Übergang lag, mein Leben ging weiter, ich richtete mich ein. Heute erwarte ich nichts, bin mit dem zufrieden, was ich habe und was ich noch kann, die eine oder andere kleine Geste. Ich muss dankbar sein. Es gibt Menschen, die haben jeden Tag Schmerzen.
II
Die Sonne brennt vom Himmel, sie haben mich in den Schatten gelegt, das ist gut so. In den nächsten Tagen beginnt das Passahfest, die Leute pilgern nach Jerusalem, sie opfern Tiere, Tauben oder Schafe. Händler tummeln sich vor den Stadttoren, spekulieren auf ein gutes Geschäft, treiben ihre Herden durch das Schaftor zum Markt. Bevor die Schafe geopfert werden, werden sie durch das Wasser getrieben. Das Schaftor liegt unweit vom Teich, an dem ich jeden Tag sitze.
Der Teich teilt sich in zwei Bereiche, einen für die rituelle Reinigung der Tiere, einen für die Kranken. Der Teich ist umgeben von einem gewaltigen Bauwerk: fünf prächtige Säulenhallen, sie sind um die beiden Teiche herum gebaut, das hat Kaiser Hadrian veranlasst. In jede Himmelsrichtung ließ er eine bauen, eine Säulenhalle in der Mitte trennt die beiden Teiche von einander, die Teiche haben je ihre eigene Funktion haben.
Ich habe meinen festen Platz, gleich rechts neben der dritten Säule an dem Prachtbau an der Ostseite nahe am Wasser. Meinen Platz lasse ich mir nichts streitig machen. Ich bin lange hier. Im Osten ist es bis zum späten Morgen heiß, die riesigen Säulen werfen lange Schatten, wenn die Sonne wandert. Hier zu sitzen ist mir am angenehmsten, ich habe morgens das Schlimmste hinter mir, den Rest des Tages habe ich Schatten.
Die Kranken kommen nach Bethesda von überall her, sogar aus dem Ausland sind welche dabei. Manche sind hier schon Jahre, man kennt sich vom Sehen, einige grüße ich, spreche ein kurzes Wort mit ihnen. Nicht alle haben das Glück, gebracht zu werden. Sie bezahlen viel Geld für Bedienstete. Nicht jeder braucht Hilfe, weil die Beine gelähmt sind, können selbst laufen, haben aber kein Augenlicht und sind auf Begleitung angewiesen.
Es gibt die unterschiedlichsten Krankheiten: Gelähmte wie ich, Menschen, die blind sind oder die an Krücken gehen, manche murmeln unverständliche Worte vor sich hin. Sie gucken niemanden an, ihr Blick ist tot, sie sind traumatisiert. Viele junge Menschen sind am Teich.
Heute bin ich gut drauf. „Magst du eine Orange“ ist mein Auftakt für ein Gespräch miteinem Nachbar. Der nimmt dankend das Obst an, lässt sich nicht auf mich ein. Schade. Also lass ich es, verbringe schweigend den Tag, blinzel in die Sonne und blicke auf das Wasser.
Das Wasser fasziniert mich, ich beobachte es wie es glitzert.Am späten Nachmittag fallen Schatten auf den Teich, das Wasser verändert seine Farbe, leuchtet nicht mehr blau wie am kühlen Morgen, glitzert nicht mehr in der Sonne.
Heute steht der Teich still, ich kann auf den Grund gucken. Das Wasser bewegt sich nicht. Es gibt eine alte Legende. Engel kämpfen auf der Erde und wehren Böses ab. Damit sind sie beschäftigt, sie dürfen nur selten auf die Erde niederfahren, um Bedürftigen zu helfen. Zu besonderen Anlässen benutzt Gott sie als seine Boten. Es ist ein großes Privileg für den Erzengel Gabriel gewesen, als er den Hirten auf den Feldern die Nachricht vom neu geborenen Heiland verkünden durfte. Engel baden gern, nach ihrer anstrengenden Arbeit vom Kampf gegen das Böse tauchen sie in den Teich Bethesda und reinigen. Von Zeit zu Zeit fahren sie herab und bewegen das Wasser. Wer als Erster in das Wasser hineinsteigt, wird von seiner Krankheit gesund.
Es ist eine Legende, aber auch Legenden enthalten Wahrheit. Die Vorstellung tut mir gut. Obwohl das natürlich völlig unrealistisch ist: Wie sollte ich als Lahmer jemals zuerst in das Wasser kommen? Die anderen sind schneller als ich. Das Leben ist ungerecht. Ich frage habe mich oft gefragt, was habe ich getan, dass mich dieser verrückter Eselantreiberzum Krüppel gemachthat. Einen Moment nicht aufgepasst, schon war es passiert. Ich falle, der Eselskarren über mich. Wie der auf die Esel eingeprügelt hat! Unbarmherzig schlug er auf sie ein. Sie sollten noch schneller laufen. Womit habe ich die Lähmung verdient?! Auf die Frage bekomme ich keine Antwort.
III
Da kommt ein Mann auf mich zu. Den kenne ich nicht. Sucht er Heilung so wie alle hier? Äußerlich ist jedenfalls nichts an ihm festzustellen. Bei mir ist kein Platz, soll er sich anderswo hingehen. Der Mann spricht mich an: „Wie lange bist du hier ?“ Ich wundere mich, dass er sich für mich interessiert, skeptisch antwortete ich : „Achtunddreißig Jahre.“ „Willst du gesund werden?“, fragt er mich. Das ist die blödeste Frage, die ich je gehört habe. Selbstverständlich will ich gesund werden. „Ich habe keinen Menschen, der mich zum Teich bringt. Ich habe keine Chance“, antworte ich ihm traurig. Er könnte mich vielleicht ins Wasser bringen, schießt es mir durch den Kopf, aber ich traue mich nicht, ihn zu fragen.
‚Willst du gesund werden?‘ hat der Mann gefragt. Vielleicht ist die Frage doch nicht so blöd wie ich zu Anfang dachte. Ich habe mein Auskommen, ich habe einen geregelten Alltag, niemand erwartetet etwas von mir, ich brauche nicht zu arbeiten, ich habe meine Ruhe, alles kann so bleiben wie es ist. Wer weiß, wie ich die Veränderungen verkrafte. Ich blicke versonnen auf das Wasser. Will ich überhaupt gesund werden? Die unerfüllten Wünsche sind doch die besseren Wünsche?
Der Mann holt mich aus meinen Gedanken und spricht: „Steh auf, nimmt dein Bett und geh hin.“
Seine Worte treffen mich wie ein Schlag. Ich soll aufstehen und gehen! Ich, der gelähmt bin, soll aufstehen? Das kann ich nicht, wie soll das gehen? Der Mann macht mir Mut, und ich probiere es. Vorsichtig schiebe ich den Oberkörper mit meinen Ellbogen hoch, stütze mich auf die Hände, ziehe beide Knie hoch, stemme die Arme auf die Hände und komme mit aller Kraft zum Stehen.
Es geht! Ich kann es nicht glauben, ich kann stehen. Verwundert und sprachlos blicke ich den fremden Mann an. Jetzt soll ich mein Bett nehmen. Der Mann ist wohl kein Jude, er weiß nicht, dass ich das nicht darf. Am Sabbat sollen wir Gott die Ehre geben, nicht unnütz umherlaufen, gar arbeiten. Ich tue es trotzdem, was der Mann gesagt hat, nehme mein Bett und trage es ein paar Meter.
Einige Leute haben das mitgekriegt. Das Getuschel geht los, einer ergreift forsch das Wort. „Du da, heute ist Sabbat“, ruft er zu mir herüber „heute darfst du dein Bett nicht tragen.“ Was sage ich bloß? Der forsche Mann bringt mich in Bedrängnis. In meiner Not antworte ich ihm: "Der da hat gesagt, dass ich das machen soll" und weise in die Richtung, in der der Fremde bis gerade eben noch gestanden hat.
Ich nehme meine Beine in die Hand und gehe weg. Sollen die Streitenden das für sich alleine diskutieren. Ich möchte Gott danken und gehe in den Tempel. Meine Freude ist übergroß. Ich darf jetzt wieder in den Tempel. Als Kranker war ich ausgeschlossen, durfte nur durch ein Guckloch an der Seite der Tempelmauer zusehen, wie die Priester die heiligen Rituale vollzogen. Kranke haben eine gesellschaftlichen Makel. Das ist zu Ende, ich gehöre dazu.
Im Tempel habe ich den Mann wiedergesehen, der mich gesund gemacht hat. Ich erfuhr, dass es Jesus war, der Mann aus Nazareth, von dem gesagt wurde, er sei Gottes Sohn. Jesus hat mich zuerst gesehen. Jetzt sprach er zu mir warnende Worte: „Siehe, du bist gesund geworden“, sagte er zu mir, "sündige hinfort nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfährt“. Meine Freude wurde dadurch betrügt. Musste ich aufpassen? Ich drängte den Gedanken weg, die Freude gewann die Oberhand. Ich ging zurück zum Teich Betesda. „Es war Jesus, der mich gesund gemacht hatte“, rief ich begeistert. Was machten sie? Sie drehten mir meine Worte im Mund um, nutzten sie, um Jesus zu verfolgen, wie ich später hörte. Es wäre besser gewesen, ich hätte geschwiegen. Im Rückblick vervollständigt sich ein Bild.
Was fange ich jetzt mit meinem neuen Leben an? Das wird sich zeigen, ich sitze jedenfalls nicht mehr am Teich Bethesda und warte auf Heilung. Denn Heilung habe ich erlebt und dafür danke ich Gott jeden Tag.