Zur Zeit der Groß- und Urgroßeltern zeigten Erntegaben auf dem geschmückten Altar an: Der Winter hält keinen Hunger und keine eintönigen Mahlzeiten bereit. Was auf dem Altar an Kartoffeln, Äpfeln, Zwiebeln, Lauchstangen, Zwetschgen, Heidelbeeren und Rhabarber lag, das konnte man im Keller und in der Speisekammer einlagern, manches vorher einkochen und dann bei Bedarf zubereiten. Großmärkte, Supermärkte und gute Verkehrsverbindungen haben irgendwann dafür gesorgt, daß Gemüse und Obst dauernd jenseits der Jahreszeiten zur Verfügung standen: Erdbeeren zu Weihnachten, Spargel im November, Avocado, Grapefruit und Orange auch außerhalb der Saison.
I
Lange Zeit veränderte das die Tonlage der Predigten am Erntedankfest: Der Dank für die gute Ernte wurde dünnlippiger und verband sich mit Kritik an Supermarktpreisen, Massenproduktion in Gewächshäusern, an den berüchtigten wäßrigen holländischen Tomaten und an Blaubeeren und Avocados, die nur unter hohem Wasserverbrauch wachsen und aus Chile und Südspanien in deutsche Supermärkte herangekarrt werden müssen. In der Gegenwart haben sich Erntedankpredigten wieder verändert: Prediger reden von regionaler Küche, die nur verarbeitet, was gerade Saison hat. Sie reden von Schrebergärten, in denen Menschen sich von der Arbeit erholen, wenn sie Lauch, Bohnen und Tomaten anpflanzen. Streuobstwiesen werden wieder liebevoll gepflegt, Kartoffelregale im Keller werden wieder aufgebaut, und Freundinnen probieren Rezepte aus, um Bohnen oder Pflaumen einzukochen. Familien bestellen wöchentlich eine Gemüsekiste bei einem ökologischen Bauernhof aus der Gegend oder engagieren sich sogar in der Solawi, der solidarischen Landwirtschaft, mit Eigenanteil am Gemüse und gelegentlicher Mithilfe.
Der Dank an Erntedank verändert sich. Der festlich geschmückte Altar an Erntedank zeigt die bleibende Bedeutung von Nahrung an, auch wenn sich die geistlichen Blickrichtungen auf den Altar im Lauf der Jahre verändert haben.Hungersnöte sind für die Konsumenten der europäischen Gegenwart zum Fremdwort geworden. Vor fünfhundert Jahren, kurz nach Luthers Reformation, war das noch anders. Es lohnt sich, einen Blick zurückzuwerfen. Im oberschwäbischen Memmingen haben vor genau fünfhundert Jahren aufständische Bauern zwölf Artikel verabschiedet. Sie machten sich ihren eigenen christlichen Reim auf Martin Luthers Entdeckung der Freiheit vor Gott. Sie entdeckten diese Freiheit in ihren Bauernstuben und auf den Kartoffeläckern. Sie dachten nach über Freiheit, Steuern und Leibeigenschaft, über Gerechtigkeit und die Aufhebung von adligen Privilegien, besonders was Nahrung, Ernte und Jagd anging.
„[Es ist] unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß“, so heißt es im vierten Artikel, „daß der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen. Denn als Gott der Herr den Menschen erschuf, hat er ihm Gewalt über alle Tiere, den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser gegeben.“ Martin Luther war von diesen Artikeln gar nicht begeistert; er verstand nicht, daß er seiner eigenen Theologie begegnete. Erst spät setzte sich die Erkenntnis durch, daß diese Artikel ein frühes Dokument der Menschenrechte waren. Und zu diesen Rechten gehörte auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, auf Nahrung und Überleben. Daseinsvorsorge sollte grundsätzlich frei sein von privilegierenden, übervorteilenden Eingriffen.
II
An dieser Stelle mischt sich der Prophet Jesaja ein. Er mischte sich damals ein, als das Volk Israel über gutes Zusammenleben stritt. Er mischt sich heute an Erntedank ein. Es fällt zuerst auf, daß zwei Perspektiven seine Worte prägen. In der einen Perspektive redet Gott selbst zu seinem Volk. In der anderen Perspektive sprechen die Beter Gott an. Vielleicht haben sich in der Passage zwei Texttraditionen ähnlichen Inhalts miteinander vermischt. Vielleicht inszeniert der Prophet seine Worte als Dialog zwischen Gott und den Menschen. Gott will etwas tun. Die Menschen sollen etwas tun.
Wer Gott vertrauen und seinen Willen erfüllen will, der ist gehalten, auch auf seine Mitmenschen zu schauen. Er schaut nicht auf diejenigen, die ihm auf Augenhöhe begegnen. Er schaut auf diejenigen, die herabgesetzt werden. Sie leiden unter den harten Bedingungen sozialer Ungleichheit: Hunger, fehlende Kleidung, Wohnungsnot, Unterdrückung. Die Stichworte könnten noch heute als Eckpunkte einer langfristigen Strategie der Sozialpolitik dienen.
Und damit befinden wir uns schon mitten im Brennpunkt brisanter politischer Diskussionen. Die Sozialisten sagen: Der Staat wird es schon richten. Die Liberalen meinen: Die Menschen können sich selbst helfen. Wir nehmen die einzelnen Personen ernst. Die Ökonomen sagen: Die unsichtbare Hand des Marktes wird die sozialen Probleme regulieren. Viele kirchliche Funktionäre schließen sich einer dieser Strategien oder einer Mischung davon an und verbrämen diese Forderungen mit ein paar frommen Worten. Wie immer sie auf diese Ideen kommen, auf Jesaja können sie sich nicht berufen. Das Thema ist nicht die oberflächlich-spirituelle Ausgestaltung sozialer und ökologischer Marktwirtschaft (oder eines alternativen Modells).
Jesaja setzt seine eigenen geistlichen Akzente. Diese will er ernst genommen wissen. Und der erste Akzent besteht darin, daß er zwei Verhältnisse miteinander verschränkt. Menschen sind mit anderen Menschen verbunden. Und – genauso wichtig - Menschen vertrauen und verbinden sich mit Gott. Beides gehört unlöslich miteinander zusammen. Das ist noch sehr abstrakt formuliert. Aber Jesaja fängt mit zwei Konkretionen an: dem Berg Zion in Jerusalem und mit einem fruchtbaren Garten. Beiden Stichworten will ich ein wenig Aufmerksamkeit widmen.
Das Stichwort vom Berg Zion fällt gar nicht im Predigttext. Aber es ist die Rede davon, daß die Bürger Israels in dieser Welt sicher und abgesichert wohnen können. Die Wüste verwandelt sich in besiedeltes Land. In diesem letzten Teil des Prophetenbuchs läuft alles auf das Symbol des Berges Zion zu. Dort, auf dem Gipfel treffen sich alle Völker und Israel, um ihr Vertrauen auf Gott zu bekräftigen. Das ist die große Vision im Hintergrund, die wir in der Gegenwart als ein Hoffnungszeichen hören. Denn sie wird kontrastiert mit dem aktuellen Bild des Nahen Ostens, geprägt durch den Terroranschlag der Hamas vom 7.Oktober 2023, der Tötung unschuldiger Menschen, der Geiselnahme, der Folterung und vielem mehr. Der Staat Israel hat darauf berechtigterweise reagiert, aber das hat auch dazu geführt, daß die Zivilbevölkerung der Palästinenser in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es ist eine sehr komplizierte Situation entstanden, die niemand mehr richtig durchschaut. Sie ist so verfahren, daß Lösungsvorschläge, die zuerst zu einem Waffenstillstand und später zu einer zivilen, friedlichen Bereinigung mit zwei Staaten führen, nicht einmal mehr diskutiert werden.
Ich will nun gar keinen politisch-theologischen Lösungsvorschlag machen, denn ich habe keinen Lösungsvorschlag. Ich will nur ganz zaghaft an die Vision Jesajas erinnern: Alle Menschen sind im Vertrauen auf Gott geeint und leisten gegenseitig Daseinsvorsorge, damit niemand hungern muß und jeder ein Dach über dem Kopf hat. Das Bild vom Jubel auf dem Berg Zion konfrontiert uns mit einer politischen Wirklichkeit, die wenig Raum für Hoffnung läßt. Trotzdem ist an diese Hoffnung auf Gott zu erinnern.
III
Jesaja macht ein zweites, Hoffnung verheißendes Bild stark: den Garten. Gärtner und Hobbygärtner leben mit der Natur und gestalten sie durch Umgraben, Pflanzen, Beschneiden und Ernten. Ein Garten ist gestaltete Natur, egal ob ein Schrebergarten neben den Eisenbahnschienen, ein Hochbeet auf dem Balkon, eine Kaffeeplantage im südamerikanischen Hochland oder ein Kibbuz in der Wüste.
Wer Möhren, Kohlrabi, Trauben und grüne Bohnen anpflanzt, kümmert sich um Daseinsvorsorge. Wer in einem Garten arbeitet, sorgt für Ernährung und hofft auf gute Ernte. Entscheidend dafür ist die Bewässerung, mit Gießkanne, Rasensprenger oder herbeigesehnten Regenschauern. Wer jemals Radieschen oder Kresse eingesät hat, weiß, daß die äußeren Bedingungen (Klima, Düngemittel, Wasser) stimmen müssen, damit am Ende Genießbares geerntet werden kann. Gärtner können durch Mühe und Sorgfalt vieles regeln, aber sie haben nicht alle Bedingungen in der Hand: nicht Gewitter und Hagelschlag, nicht gefräßige Schnecken und Kirschen pickende Vögel. In den Blickpunkt rückt nicht nur das Zweckhafte und Funktionale des Gartens, sondern auch seine Schönheit: die Anmut von Rosenblüten, die Farbnuancen frisch geernteter Äpfel und die rostroten Töne von Herbstlaub.
In der Anlage und Planung eines Gartens lebt der intensive Wunsch, einen gestalteten Raum zu entwickeln, in dem sich Natur und Gestaltung, Schönheit und Nutzen miteinander verschränken. Darum mögen viele Bewunderer englische Landschaftsgärten, die der Natur und der Gestaltung gleiches Recht zukommen lassen und gleitende Übergängen vom Menschlichen zum Natürlichen schaffen.
Gärten, Gemüsegärten und Ziergärten, geben Grund zu danken, gerade am Anfang der kühleren Herbsttage, wenn reiche Ernte eingefahren werden kann. Dankbarkeit gilt den Gärtnern und Bauern, aber auch - umso größer gegenüber Gott. Er ist auch ein Gärtner, der sich um die Welt kümmert. Und diese Dankbarkeit ergreift uns trotz all dessen, was uns im Moment große und größere politische Sorgen bereitet. Einen Teil davon habe ich in dieser Predigt erwähnt, einen anderen Teil spricht Jesaja selbst an. Dankbarkeit und Sorge, Vertrauen und Tätigwerden greifen ineinander über. So sieht es Jesaja. Es richtet uns darauf aus, dem gärtnernden Gott zu vertrauen, für die Früchte seiner Schöpfung dankbar zu sein und, was nötig ist, selbst in die Hand zu nehmen.
Und die Gärtnerliebe Gottes, welche höher ist als alles menschliche Umgraben, Pflügen und Sammeln, bewahre eure vertrauenden Herzen und tätigen Hände in Jesus Christus.