Die Worte zur Predigt sind uns heute aus dem Buch der Sprüche Salomos gegeben. Sie stehen im 16. Kapitel dieses biblischen Buches, in dem es um Weisheit geht. Nach Kapitel 25 der „Sprüche Salomons“ gab es fleißige Gelehrte am Hof des Königs Hiskia von Jerusalem. Sie sammelten die bis dahin mündlich überlieferten Sprüche des Königs Salomo.Die Kapitel 10 – 22 enthalten insgesamt 375 Sprüche. Das entspricht nach hebräischer Symbolik dem Zahlenwert des Namens Salomo. Unser Predigttext ist eine Art Prolog zum 2. Hauptteil der Spruchsammlung. Ich verlese uns die Verse 1 – 3 + 9 in der Übersetzung Otto Plögers, der an Stelle von „HERR“ oder „Gott“ das Wort „Jahwe“ gebraucht:
1 Beim Menschen (liegen) die Überlegungen des Herzens,
aber von Jahwe kommt die Antwort auf die Zunge.
2 Alle Wege des Menschen (erscheinen ihm) rein in seinen Augen,
aber, der die Geister prüft, ist Jahwe.
3 Wälze auf Jahwe deine Werke
und es werden Erfolg haben deine Pläne.
9 Das Herz des Menschen plant seinen Weg,
aber Jahwe bahnt seinen Schritt.
Neujahr ist der Start oder, jetzt im Gottesdienst, die Zeit vor dem Start. Was erwartet mich im neuen Jahr? Werde ich allen Anforderungen Stand halten? Habe ich Grenzen zu ziehen und Stoppschilder aufzustellen? Was will ich im neuen Jahr anders machen? Es wird gespottet, dass am Neujahrstag gemachte Vorsätze von kurzer Haltbarkeitsdauer seien. Na und? Es gilt doch wohl, dass es besser ist, einen Versuch zu machen als nichts zu tun. „Heute“ gilt es zu leben und zu beginnen. Unter dieses „Heute“ aus dem Neujahrsevangelium wollen wir jetzt das Hören auf das „Buch der Sprüche Salomons“ stellen. „Beim Menschen (liegen) die Überlegungen des Herzens“ lautet der erste Satz. Zum Menschen gehört das Herz, aber was das Herz denkt und warum es so und nicht anders denkt, gehört zum Wesen des Menschen. Wie das Auge sieht, ohne dass es einen Befehl bekommt und das Ohr ohne Auftrag hört, so unabhängig denkt, fühlt und empfindet auch das Herz. So ist der Mensch. „Zum Menschen gehören die (eigenständigen) Empfindungen des Herzens.“ Von dem Kirchenvater Augustinus ist der bekannte Satz überliefert, wonach unser Herz (dauernd) unruhig ist, bis es endlich Ruhe findet in Gott. Augustinus betont, wie unser Spruch, die Eigenständigkeit des Herzens. Ihm bereitet es Unruhe und Angst, Sorge und Not, ob er will oder nicht.
‚Der Mensch hat Herzens-Gedanken, aber’, so lautet die Fortsetzung des Weisheitsspruches, ‚von Gott, dem Herrn, kommt die Antwort auf die Zunge’. Obwohl das Herz die wildesten Gedanken denkt und die absurdesten Wünsche hat, obwohl es im neuen Jahr die Stirn Falten ohne Ende schlagen lässt, obwohl das so ist, gilt es zu glauben, dass Gott, der Herr, in mein Leben tritt. „Aber von Gott kommt die Antwort auf meine Zunge.“ Die Antwort, die mir Gott, der Herr, eingibt, muss eine Antwort sein auf eine Frage, die mir, einem vom Terror des Herzens Geplagten, gestellt wurde. Wer ist Gott, der Herr? Der Weise antwortet: Er tritt – und jetzt kommt ein Schlüsselwort eines bedeutenden Auslegers – „dazwischen“ (Lux, a. a. O. S. 73). Das Herz gibt mir das Seltsamste, Unliebsamste und Sorgenvollste ein, aber Gott, der Herr, tritt dazwischen. Er lässt mich eine Antwort, eine Lösung des Problems finden, das mir das Herz unterschiebt. Wir erfahren in diesen biblischen Worten, dass ein Mensch mit allergrößter Schlichtheit und mit allergrößter Entschiedenheit an Gottes Gegenwart in seinem Leben glaubt. Optimismus ist angesagt. Es ein Optimismus dergestalt, dass der Mensch seiner Sorge und seinem Kummer, seiner Gier und seiner Engherzigkeit nicht ausgeliefert ist. Er hat Gott an seiner Seite und mit ihm widersteht er der Gewalt des Herzens. Ist damit ein sorgloses Leben vorgezeichnet? Dann hätten wir den Spruchdichter gründlich missverstanden. Dass Gott, der Herr, ihm immer wieder die richtigen Antworten gibt, ändert nichts daran, dass der Mensch ein Mensch der Arbeit ist. Es gibt Pläne und Werke, Unwägbarkeiten, Anstrengungen und Misserfolge. Das lastet auf ihm wie ein Stein. Was ist zu tun? Die Antwort lautet:‚Wälze auf Gott, den Herrn, deine Pläne und deine Werke, deine Anstrengungen und deine Taten’.
Es ist dieses „Auf – ihn – Wälzen“ das krasse Gegenteil von einer billigen Zuversicht nach dem Motto „Gott wird’s schon richten“. Zu groß, zu schwer, zu hart liegen die Anforderungen der Arbeit auf seiner Brust. Zu nachhaltig verfolgt es ihn, ob er „es“ schafft. Wie man einen schweren Stein nicht leicht auf einen Berg hoch rollt, wie es in mehreren aufeinanderfolgenden Anstrengungen zu geschehen hat, damit der Stein oben bleibt, so ist das dann auch beim Gebet zu Gott, dem „Wälzen der Pläne“ auf ihn. Der Weg in die Sorglosigkeit aus Glauben wird unter keinen Umständen mit einem schlichten Stoßgebet gegangen. Das verbietet das Wort „Wälzen“. Ich muss in einem Gebet und dann mit einem weiteren und dann mit dem nächsten Gebet darum ringen, dass Gott Pläne und Werke, Anstrengungen und Mühe segnet und zum Erfolg führt. Irgendwann stehe ich dann auf dem Berg und habe die Überzeugung gewonnen, dass Gott mir meinen Weg bahnen wird. Die Weisheitsliteratur unserer Bibel steht neben der Weisheitsliteratur anderer Völker. Die Forschung hat ermittelt, dass aus dem Buch der Sprüche Salomos mancher Vers vor allem in den ägyptischen Weisheitsbüchern wieder zu finden ist. (So gibt es nach Plöger eine starke Affinität zu den Weisheitsbüchern Amen- em-ope und Ani(i). A.a.O., S. XXV) Jüdische Denker begaben sich in eine geistige Auseinandersetzung mit ihrer Zeit. Wie andere ihren Wertekanon aufstellten, so formulierten auch sie den Ihrigen. Er ist als Anleitung zu einem gelingenden Leben nach der Schrift gedacht.
Auch wir können uns heute als Christinnen und Christen als eine „Weisheitslehre“ neben ungezählten anderen sehen. Das kann lähmen, weil man sich fragt, was denn überhaupt gilt. Wie freilich jene Gelehrte des Königs Hiskia ihren hebräischen Wertekanon unabhängig von vielen anderen verfassten, sollte es unter uns auch sein. Jene Weisheitslehrer verbieten es uns, zu resignieren. Das Buch der Weisheitssprüche Salomons ruft uns allein durch seine Existenz auf, hier und heute eine „Weisheit“ zu erarbeiten, die Antworten auf unsere Probleme im 21. Jahrhundert gibt.Heute, am 1.1. 2013, feiert ein Wissenschaftler seinen 70. Geburtstag, der wie nur wenige die Situation des modernen Menschen im 21. Jahrhundert erforscht hat. Ich spreche von dem Soziologen Richard Sennett. (Das folgende ist u. a. in Anlehnung an Frank Dietschreit, Richard Sennett, Der flexible Mensch, schriftliche Wiedergabe des Interviews unter dem link „www. kulturradio.de rezensionen/ buch 2012/ richard sennett“ geschrieben.) 1998 erschien sein grundlegendes Werk „Der flexible Mensch“. Nachfolgende Werke hießen „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ (2007) und „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“. Sennett legt besonders in dem ‚Flexiblen Menschen’ dar, dass die heute Beweglichkeit und Mobilität nicht nur einen hohen Preis an Verzicht verlange, sondern unser Leben zerstöre. Menschen, die heute hier und morgen dort lebten, könnten keine freundschaftlichen Beziehungen aufbauen. Sie würden auf Dauer ein Gefühl für Tradition und Stabilität verlieren. Er meint, dass eine Gesellschaft, in der Menschen keinen Grund mehr haben, sich umeinander zu kümmern, keine Zukunft mehr habe. Wo das Gefühl fehle, etwas Bleibendes zu schaffen, sei die Gesellschaft zum Untergang verurteilt. Das ist – mit allem Respekt und aller Hochachtung gesagt – die „Weisheit“ eines der einflussreichsten Theoretiker und anerkannten Soziologen der Gegenwart.
Folgen wir jenen Männern um den König Hiskia, die ihre Weisheit neben eine andere legten, dann dürfen wir solche Bücher wie die von Richard Sennett nicht unbeantwortet zur Seite legen. Es ist so, als würden sie über die Jahrtausende hinweg zu uns sagen: „Steckt nicht den Kopf in den Sand, sondern findet eine Antwort, und sei sie noch so dürftig!“ Was gibt biblische Weisheit her, um dem so in die Enge geratenen Menschen, wie Sennett ihn beschreibt, zu helfen? Es sprengt den Rahmen einer Predigt, auf Sennett eine Antwort zu geben. Es folgt jetzt nur eine Erinnerung an das, was uns nach den Worten des Predigttextes trägt. Besinnen wir uns auf unsere biblische Weisheit, dann wird sie nicht dazu taugen, bestehende Trends der unendlichen Flexibilität und Hektik zu durchbrechen. Wir können feststellen, dass es nicht das Unsrige war und ist, Verhältnisse zu ändern, wohl aber uns und unsere Stellung zu ihnen. Wir sind wie alle anderen Getriebene. Wir können aber darauf hinweisen, dass es für uns einen Gott gibt, der in aller Angst und Einsamkeit und Verlorenheit des Herzens da ist. Er hilft uns, angemessene Antworten zu geben, ja, wir vertrauen, dass er unseren Weg bahnt. Heute so und morgen anders. Wir können sagen, dass Gott es selbst ist, der uns Heimat unabhängig von allem Hin- und Hergestoßenwerden ist. Wir können uns schließlich weit zum Fenster hinaus lehnen und sagen, dass wir nicht an einen Kollaps der Gesellschaften glauben, weil wir meinen, dass trotz aller zutreffend beschriebenen Verhältnisse einer da ist, der seine Menschen bewahren wird trotz der verheerenden Folgen einer globalen Mobilität. Was bringt uns die alte Glaubensweisheit aus dem „Buch der Sprüche Salomons“? Kurz und knapp ist sie. Sie enthält aber, so meine ich, das, was das wandernde Gottesvolk braucht: „Gott ist ‚dazwischen’“ und „Gott ist die Ablage der Sorgen“. Begründeter Optimismus ist angesagt. Er gilt in Blick auf uns selbst und unsere Arbeit. So mag sie uns als geistliches Proviantgepäck durch das Jahr 2013 begleiten.