„Es begab sich aber zu der Zeit…“ Wie oft haben wir diese Worte schon gehört. Sobald sie erklingen, werden wir in unsere frühesten Weihnachtserinnerungen hineingenommen – die Krippenspiele, die Abende, wenn die Eltern oder die Großeltern vor der Bescherung noch die Weihnachtsgeschichte vorlasen.
Es sind die immer gleichen Worte, welche die wohlige Weihnachtsstimmung in unserem Gemüt ausbreiten können. Was ist das Geheimnis dieser Erzählung, dass sie es jedes Jahr wieder schafft, uns so zu verzaubern? Warum wollen wir sie jedes Jahr wieder hören? Warum fehlt uns ohne diese Worte an Weihnachten etwas? Ich glaube, es liegt an der Unerhörtheit, dieser Geschichte. Es ist schon erstaunlich: Da kommt der große, der allmächtige, der herrliche Gott in unsere Welt. Aber er kommt nicht als starker Held. Er kommt nicht als mächtiger Herrscher. Er kommt auch nicht als kluger Gelehrter. Er kommt als kleines, schwaches, hilfsbedürftiges Kind. Darüber hinaus kommt Gott auch nicht in einem Palast, sondern in einem Stall zur Welt.
Diese Geburtsgeschichte zieht uns hinein in die Liebesgeschichte Gottes mit uns Menschen. Als Gott hinabsteigt in diese Welt, kommt er nicht als Herr aller Herren in seine Schöpfung. Nein, er ist erfüllt von der Sehnsucht nach uns Menschen. Er will uns ganz nahe kommen. Als Mutter kann ich Ihnen sagen, dass mir nichts näher ist als das Kind, das ich unter dem eigenen Herzen getragen habe. Mit ihm bin ich eins. Gott will uns durchdringen, in uns eindringen, mit uns eins sein. Er will sich in unseren Herzen einbetten. Darin kommt Weihnachten erst zu seinem Ziel, dass Gott nicht nur vor mehr als 2000 Jahren in Bethlehem geboren wurde, sondern auch heute noch immer neu in uns geboren wird und in uns neue Lebensfreude erzeugt. Das geschieht in diesem Kind. Das berührt uns. Das können wir nachfühlen, diese Liebe, die wohl jeder Mensch empfindet, wenn ein kleines Baby vor ihm liegt, eben noch leiblich mit der Mutter vereinigt, dann durch das unverbrüchliche Band der Liebe untrennbar mit uns verbunden. Dieser Anfang macht es mir leichter, Gott zu lieben. Ihn in mein Herz zu lassen. Doch das ist nicht das einzig Unerhörte an dieser Geschichte: So ein kleines Baby bleibt ja nicht dieses “frischgeschlüpfte” niedliche Geschöpf. Kann ich mir das überhaupt vorstellen?
Gott, der an der Brust der Mutter saugt,
Gott, der sich trotzig auf den Fußboden wirft und strampelt und schreit,
Gott, der hinfällt und sich die Knie aufschürft und verheult nach Hause humpelt,
Gott, der seinen Freund verteidigt und dabei jemandem eins auf die Nase gibt,
Gott, der staubig und dreckig als Straßenkind durch die Gassen rennt…
Diese Vorstellung von Gott wirkt befremdlich, geradezu skandalös. Aber so ist das doch mit Kindern. Genau so ist das Leben. Das steckt also auch in dieser Geschichte: Gott geht mit uns, unser ganzes Leben hindurch. Von Anfang an erlebt er das gleiche, was wir Menschen erleben. Er erlebt alles, was zum Heranwachsen gehört: Er kennt die Wut, die wir empfinden, wenn wir etwas von Herzen wollen und nicht haben können. Er kennt das Grenzenaustesten und Scheitern. Er kennt den heiligen Zorn, der einen Menschen erfasst, wenn er etwas ungerecht empfindet. Gott weiß, wie es ist, hinzufallen und wie schwer es ist, sich dann wieder aufzurappeln. Gott hat sich auch mal schmutzig gemacht. Gott ist nicht nur in den saubergeputzen Stuben zu Hause, sondern ebenso in den staubigen und schmuddeligen.
Ich muss gestehen, dass mir dieses Bild von einem kleinen rotznäsigen Gott viel besser gefällt, als das des geschniegelten und gebügelten kleinen drallen Jesus, den Maria auf dem Arm hält. Dieses Bild von Jesus Christus rührt mich irgendwie nicht an, weil er da so abgehoben und distanziert wirkt. Doch ein staubiger Jesus mit Schorfkrusten am Knie hat etwas mit meinem Leben und Erleben zu tun. Gott, der das alles auch erlebt hat, der weiß, dass es mehr Spaß macht zu spielen, als arbeiten zu müssen. Gott weiß auch, wie es auf der Flucht ist. Der kann mit den Flüchtlingskindern, die in den letzten Wochen und Monaten ihre Heimat verloren haben, mitfühlen. Gott, kann verstehen, dass man Angst hat – vor Krieg, vor der Dunkelheit oder vor der Ungewissheit der Zukunft. Gott kennt Prüfungs – und Versagensangst. Gott kennt Liebesglück und Liebeskummer. Gott kennt Selbstzweifel und Selbstbewusstsein. Gott macht sich etwas daraus, wenn himmelschreiendes Unrecht geschieht. Gott kennt das Leben!
Gott kommt in einem Kind auf diese Welt, und er erlebt unser Menschsein – mit allem was dazugehört: Bauchschmerzen, Trotzphasen, Unsicherheit, Freude und Trauer. Gott entscheidet sich aus Liebe zu uns, uns ganz nahe zu sein. Da ist er mit einem Mal nicht mehr dieser allmächtige, über den Dingen schwebende Schöpfer, der uns zwar liebt, aber dennoch weit weg im Himmel ist. Gott kommt in unseren Dreck, in unser Chaos, in unsere Unzulänglichkeit. Gott kommt dahin, wo Menschen verzweifelt sind, aber auch dahin, wo sie vor Freude zerspringen könnten. Er kommt und ist einer von uns mit allem, was dazugehört. Genau dadurch ist er mir ganz nah. Er wird einer, dem ich auch wirklich glauben kann, dass er mich versteht – er hat es selbst erlebt… Ist es nicht so? Wenn Gott ein Kind wird, dann wird Gott im Kind Mensch. Und Gott wird in jedem Kind Mensch. In meinem. In ihrem. Aber auch in den Kindern, die wir preisgeben, weil wir sie nicht kennen; weil wir sie zurückweisen; weil wir sie fremd empfinden; weil sie uns zu dreckig sind. Gott begegnet uns in den kranken Kindern und genauso in den Kindern, die in den Slums großer Städte der dritten Welt leben und auf Müllbergen nach verwertbarem suchen müssen.
Gott ist dreckig – krank – fremd. Gott ist Kind. Gott ist Mensch, und damit ist er uns nahe. Nicht umsonst. Seit Menschengedenken. Gott will Mensch werden – aus Liebe zu uns Menschen. Gott geht mit uns mit. Er öffnet uns die Augen, hält uns an und weist uns auf das Gotteswunder in unserem Leben: zu sehen, wie Gott als Kind geboren wird; wie er groß wird und anfängt, Verantwortung zu übernehmen; wie er anfängt, das Leben anzupacken; wie er sich darum bemüht, die Wunden in der Welt zu heilen. Er hat es einfach gemacht. Und uns traut er das auch zu. Wir können das auch: Großwerden, Verantwortung tragen, Wunden heilen. Wir haben es selbst in der Hand, dass das Leben gelingt; dass überall auf der Welt Kinder eine Zukunft haben – Kinder, in deren Angesicht wir das Angesicht Gottes sehen können. Wir sind dabei und gefragt. Weit über unsere Weihnachtstage hinaus. In unserem Alltag, in unserem Leben. Gott ist bei uns – überall.