„Seht auf und erhebt eure Häupter“, sagt Jesus. „Erhebt eure Herzen“ – es gibt nicht viele Worte unserer lutherischen Liturgie, die ich lieber singe als diese. Ich freue mich, wenn Ihr antwortet: „Wir haben sie beim Herrn“. Darum geht es doch beim Abendmahl und in jedem Gottesdienst: die Herzen beim Herrn haben, den Kopf oben behalten trotz allem. Ich weiß schon: Es ist nicht so leicht, die Herzen beim Herrn zu haben, für Euch nicht und für mich auch nicht.
I
Da ist „die Erwartung der Dinge, die da kommen sollen über die ganze Erde“. Für die „Zeichen an Sonne, Mond und Sternen“ und das „Brausen des Meeres“ setzen wir die Katastrophen ein, die der Menschheit bevorstehen. Ich muss sie nicht aufzählen. An Warnungen fehlt es ja nicht. Wir hören sie so oft, dass die Warnungen sich schon wieder abnutzen. Die einen sind verängstigt, die anderen tun so, als seien alle Warnungen nur ein großer Schwindel. Die ersten sind oft wie gelähmt, die zweiten machen mit ihrer Sturheit alles noch schlimmer, und die dritten versuchen, möglichst selten an all die Probleme zu denken.
Da sind auch noch andere Dinge, die unsere Herzen manchmal schwer machen und zu Boden ziehen: unsere persönlichen Sorgen, unsere Trauer vielleicht, die Krankheiten unserer Lieben oder auch eigene Krankheit an Leib oder Seele. Es hat keinen Sinn, solche Sorgen klein zu machen, sie schön zu reden. Sie sind real, die Menschheitssorgen und die Sorgen jedes einzelnen Menschen. Wer den Menschen verbietet, ihren Kummer auszusprechen, der macht den Kummer nur noch größer.
Eines aber kann ich sagen: Die Pfarrer Wilhelm Schubert und Siegmund Fries haben auch am Karfreitag 1945 gesungen: „Die Herzen in die Höhe“, und die sorgenvolle, verängstigte Gemeinde hat geantwortet: „Wir haben sie beim Herrn“. Es ging gewiss nicht leicht über die Lippen, dieses: „Wir haben sie beim Herrn“. Denn da hat man das Brausen des Meeres schon gehört, da war Nürnberg schon zerstört, da sind schon Munitionszüge explodiert drüben in Oberdachstetten. Da waren schon viele Söhne und Brüder irgendwo weit weg begraben. Doch die Gemeinde hat gesungen.
II
Gemäß der Reihenfolge beim Evangelisten Lukas hat Jesus kurz nach den Worten von den erhobenen Köpfen das Abendmahl gefeiert und ist noch in der Nacht verhaftet worden und ins Leiden gegangen. Davor aber hat er noch gesagt. „Hütet euch, dass eure Herzen nicht beschwert werden …“Wie ist dieser Hochmut – also der hohe Mut – des Glaubens möglich? Woher die erhobenen Häupter? Wie kommt es, dass die Herzen der christlichen Gemeinde trotz allem beim Herrn sind?
Zwei Generationen vor Jesus lebte in Rom der große Dichter Horaz. Von ihm stammt ein lateinisches Sprichwort: „Impavidum ferient runiae“, also etwa: „Wenn die Mauern, die Ruinen zusammenstürzen, dann sollen sie einen Unerschrockenen treffen“. Oder: „Auch wenn die Erde bebt und alles zusammenstürzt, will ich mich nicht erschrecken lassen“. Zum Denken von Horaz und seinen Freunden gehört, dass man sich vom Getriebe der Welt nicht beirren lässt, dass man sich am besten zurückzieht in ein stilles Leben. Es gehört auch dazu, dass man liebt, aber nicht allzu sehr. Denn wer zu sehr liebt, für den wird das Leid und der Tod der geliebten Menschen zur Gefahr. Das Leid der anderen zieht den Menschen hinunter.
„Lass dich nicht hinunterziehen vom Leid der Mitmenschen“, diese Weisung gehört auch zu den Freunden von Horaz. Von dieser Einstellung ist Jesus weit entfernt. Er lehrt uns weder die Unerschrockenheit von Horaz noch irgendein andres vom Leid der Menschen unberührtes Heldentum. Er lehrt uns vielmehr Mitgefühl mit allem Lebendigen. Jesus ist bedrückt von der Not der Menschen, sie „jammern ihn“, so heißt es öfters in den Evangelien.
Es gibt Menschen, die einer Situation ausweichen, in der sie der Not anderer allzu nahe begegnen. Sie weichen aus, nicht, weil sie so unerschrocken wären, wie Horaz gern sein wollte. Sie weichen aus, weil ihnen selbst jämmerlich zu Mute wird, wenn sie Warnungen vor Katastrophen hören, und noch mehr, wenn sie den Jammer der Leute aus der Nähe erleben. „Für mich ist das alles zu viel“, sagen sie vielleicht.
Ich erinnere mich an meine erste Reise nach Indien vor 40 Jahren. Ich wurde mit dem Wagen am internationalen Flughafen von Mumbai – damals sagte man noch Bombay – abgeholt und zum Inlandsflughafen gebracht. Rechts und links von der Straße lagen die Leute, bettelnd, ausgemergelt, manche mit offenen Wunden, einarmig oder ohne Beine. Der Anblick brachte mich an meine Grenzen. Am liebsten hätte ich zum Fahrer gesagt: „Kehren Sie um. Ich fliege noch heute nach Deutschland zurück“.
Vor drei Wochen sah ich dann in den Straßen Istanbuls am Abend zwei junge Frauen, die Abfall sammelten. Beide hatten einen Säugling auf ihre Brust gebunden. Der einen half ihr vielleicht fünfjähriger Sohn und holte den Müll von den Straßenrändern. Achtlos liefen die Leute vorbei. So schlimm wie in Indien war es nicht. Und doch wusste ich auch nach 40 Jahren noch nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Als man von allen Seiten Kranke zu Jesus bringt, „jammern“ sie ihn. Und doch sagt er: Richtet euch auf, „erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“.
Ein großer Prediger meiner Tage – ich bin froh, dass ich ihn noch kennenlernen durfte – sagte: „Advent heißt: Gott macht sich katastrophenbeständig. Wenn unser Lebensgrund weicht, macht er sich zu neuem Lebensgrund“. Friedrich-Wilhelm Marquardt hat sich über den Zustand der Welt und der Kirche keine Illusionen gemacht Aber den Kopf wollte er oben behalten, sein Herz beim Herrn.
In Istanbul hätte ich am liebsten weggeschaut, den Touristen gespielt, der ich in dieser Stadt nicht mehr bin. Aber wir haben andere Möglichkeiten. Wir müssen nicht wegschauen, vom gegenwärtigen Elend nicht und nicht von dem, was uns bevorsteht, denn mitten in diesem Elend ist etwas anderes im Gang: „Die Erlösung naht“, sagt Jesus. Das Reich Gottes wächst unsichtbar, unterirdisch, auch wenn an der Oberfläche das Gegenteil geschieht. Besonders leicht zu glauben ist der Satz von der nahenden Erlösung nicht. Doch wir Christen glauben ohnehin an das, was die Menschheit in der Regel nicht glauben will.
Durch unseren Glauben werden wir Wege finden, wie wir auch in der Krise Gutes tun können. Mag es nicht viel sein, mögen es Kleinigkeiten sein. Mehr als nichts ist es allemal. Das wäre schlimm, wenn die Krisen uns lähmen würden, wenn wir vor lauter Bangigkeit gar nichts mehr täten. Es gibt in unserer Welt Menschen, die tief verängstigt sind von dem, was kommt, und andere, die die Probleme leugnen. Gott sei Dank gibt es auch Menschen, die hinschauen und doch nicht aufgeben. Mit ihnen sind wir Christen verbunden. Denn wir suchen in dieser Welt nach Zeichen, dass das Reich Gottes kommt.
Jahrelang bin ich in Istanbul dem Inhaber der Deutsch-Türkischen Buchhandlung begegnet. Seit langem wurde ich im Laden mit Handschlag begrüßt, ohne dass der Mann meinen Namen kannte oder meinen Beruf. Am Sonntag ging ich in die deutsche Kirche, die katholische diesmal. Da saß der Buchhändler neben mir in der Bank. Entgeistert fragte ich: „Sind Sie auch katholisch?“ „Aber sicher“, antwortete er. Ich wusste: Er sah die Lage in der Stadt ganz ähnlich wie ich, natürlich wusste er viel genauer Bescheid. Was ist ein Gottesdienst unter bedrückenden Umständen in Istanbul, der wunderbaren Stadt, in der doch junge Mütter den Müll aufsammeln? Ein gemeinsames Warten auf Erlösung, auf das kommende Reich Gottes.
„Die Herzen in die Höhe“, das gehört auch zum katholischen Gottesdienst. Wie das geschehen wird? Wie aus dem Elend Gerechtigkeit und Frieden wachsen werden? Ich weiß es nicht. Auch Friedrich-Wilhelm Marquardt, der wenigstens zehnmal so klug war wie ich, sagte: „Ich habe keine Fähigkeit des Geistes, das näher zu erklären. Ich kann nur dem Wort folgen, das hier geschrieben steht, und es nachsagen: Wenn Himmel und Erde vergehen, seine Worte vergehen nicht“. So geht es mir auch: Ich weiß nur, dass Jesus uns gelehrt hat zu beten: „Vater unser … dein Reich komme“,und ich weiß, dass Jesus noch kurz vor seinem Tod von dem Feigenbaum sprach, dessen Früchte bald reif sein werden, weil der Sommer kommt.
III
Eine Geschichte möchte ich euch erzählen, eine Geschichte vom Advent und vom Reich Gottes. Ein Freund von mir war Pfarrer in Prag. Man muss wissen, dass Tschechien zu den Ländern in Europa gehört, in denen am meisten Menschen sich vom Glauben und von der Kirche abgewendet haben. In der Öffentlichkeit spielen Glaube und Kirche fast keine Rolle. Eine Periode lang war mein Freund Parlamentsabgeordneter für eine Partei, die es nicht mehr gibt. Er arbeitete dafür, dass Tschechien seinen Weg in der Demokratie finden sollte.
Da saß also mein Freund Svato in einer Sitzungspause in seinem Büro und schrieb seine Predigt für den nächsten Sonntag. Eine Adventspredigt sollte es werden. Er wollte sagen, dass es für das Reich Gottes auch unseren Einsatz verlangt, dass es Opfer kostet. Doch es fiel ihm nicht recht ein, wie er das sagen sollte.
Da kam ein Engel in Gestalt eines jungen Mannes: der Amtsbote eines Ministeriums, der Unterlagen brachte.Als der junge Mann hörte, woran Svato arbeitete, meinte er: „Herr Pfarrer, meine Großmutter sagte immer: ‚Wenn du nicht in der Lage bist, ein Opfer zu bringen, bist du niemandem etwas nütze‘“. Savto bedankte sich. Im Gehen wandte der Bote sich noch einmal um und sagte:
„Als ich ein kleiner Junge war, fragte sie mich: ‚Weißt du, woran du erkennst, dass du erwachsen geworden bist?‘“ Svato wusste es natürlich nicht. „Dann, wenn du mehr Freude daran hast, jemandem etwas zu geben, als von jemandem etwas zu bekommen.“ Nach diesen Worten war der Adventsengel in den Gängen des Abgeordnetenhauses verschwunden.
Das Reich Gottes kommt. Andere Dinge stechen uns in die Augen. Doch Gottes Reich kommt mit kleinen, unscheinbaren Vorzeichen: den Amtsboten eines Ministeriums, Früchte an einem Feigenbaum, Blüten an einem Mandelzweig, eine Frau, die auch beim Müllsammeln ihr Kind anstrahlt. Darum auch heute: „Erhebt eure Häupter“. „Die Herzen in die Höhe. – Wir haben sie beim Herrn.“