Bevor wir überhaupt Überlegungen zu diesem Text aus dem Alten Testament anstellen, müssen wir uns über eines ganz klar werden: Es geht hier nicht um eine Geschichte von zwei Menschen, einem Mann und einer Frau, die vor langer Zeit einen schweren Fehler gemacht haben und deshalb aus dem herrlichen Garten vertrieben wurden, den Gott ihnen gebaut und zur Verfügung gestellt hatte. Nein, es geht nicht darum, dass wir über zwei Menschen zu Gericht sitzen. Denn das wäre ja nun sehr einfach: den verhängnisvollen Fehler ausgiebig zu analysieren, den die beiden begangen haben, und dann möglichst noch zu sinnieren, dass wir es an ihrer Stelle ganz sicher besser gemacht hätten.
Es geht hier nicht um zwei einzelne Menschen in grauer Vorzeit, die genauso gelebt und genauso gehandelt haben, wie es hier beschrieben ist. Sondern es geht um uns Menschen heute. „Adam“ bedeutet: der aus Erde Gemachte und „Eva“ bedeutet: die, die das Leben schenkt. So ist Adam das Urbild des Mannes, das Symbol des Mannes; und Eva das Urbild der Frau, das Symbol der Frau – beide zusammen das Symbol für die Menschheit. Symbol für uns selbst. Nur so können wir verstehen, welche Botschaft uns aus der Geschichte vom Sündenfall hervorleuchtet.
Wenn das so ist, dass Adam und Eva Symbole sind für den Menschen an sich: Ist es nicht das Natürlichste der Welt, dass der Mensch Grenzen nicht akzeptiert? Dass er Grenzen überwinden möchte, um weiter zu kommen, mehr zu wissen, mehr zu können? Macht das nicht gerade das Menschsein aus, dass wir forschen und entdecken, philosophieren und fragen, sezieren, unter das Mikroskop legen, auseinandernehmen und wieder zusammenbauen? So lange, bis wir mehr wissen über das, was uns bisher verborgen war? Ja, das müssen wir zugeben: Wir brauchen Grenzüberschreiter. Denn der Fortschritt der Menschheit war immer von den Grenzüberschreitern abhängig und von den Visionären, nicht von den Braven, die die ihnen gesetzten Grenzen klaglos akzeptierten.
Freiherr Drais von Sauerbronn gab sich nicht damit zufrieden, auf einem Hochrad nur 15 km/h schnell zu laufen. Er wollte fahren und erfand Fahrradkette und Pedale. Thomas Alva Edison gab sich nicht damit zufrieden, bei Kerzenlicht zu lesen oder Bilder zu zeichnen. Er erfand die Glühbirne und den ersten Fotoapparat. Guglielmo Marconi gab sich nicht damit zufrieden, Nachrichten erst am nächsten Tag durch die Zeitung zu erfahren, und erfand das Radio. Paul Nipkow wiederum war das nicht genug. Er wollte Bilder dazu. Und erfand den Fernseher. Ob nun Roald Amundsen (der erste Mensch am Südpol), Kopernikus (der das gesamte Weltbild auf den Kopf stellte), Christoph Kolumbus (der Entdecker des amerikanischen Kontinents) oder Robert Koch (der Entdecker des Tuberkulose-Erregers): alle Entdeckungen und Erfindungen der Menschheit gehen auf Menschen zurück, die Grenzen, die bis dahin unüberwindbar schienen, nicht akzeptierten, sondern die den Mut hatten, sie zu überschreiten.
Ja, wir brauchen Grenzüberschreiter. Zweifellos. Denn das macht uns Menschen ja zu Menschen, dass unser Geist ein freier Geist ist und wir mehr können und mehr anstreben als nur dahin zu leben und unseren Instinkten zu folgen. Und – damit wir nun nicht ganz nur in philosophischen Gedanken stecken bleiben – Gott hätte uns den Geist ja nicht gegeben und die Vernunft und die Lust am Forschen und den Drang zu entdecken, wenn er gewollt hätte, dass wir instinktgeleitete Tiere blieben. Was aber nun haben „Adam und Eva“ falsch gemacht? Was ist denn dann die Sünde der Menschheit, wenn es das Grenzüberschreiten als solches nicht ist?
Grenzen überschreiten, Neues entdecken, Neues erfinden, weiterstreben und weiterkommen an sich ist gut. Die ganze Bibel erzählt davon, dass Menschen unterwegs waren zu neuen Zielen, sich neue Aufgaben gesetzt haben und dabei auf Gott vertraut und auf Gott gehört haben – ober eben auch nicht. Sich Ziele zu setzen – auch jenseits der bis dahin geltenden Grenzen – ist nicht verwerflich, sondern gut. Aber: Zur Grenzüberschreitung gehört Besonnenheit. Nicht jede Grenze muss überschritten werden. Nicht jede Grenze darf überschritten werden. Und ich glaube, darin sind wir unseren Symbolbildern Adam und Eva viel näher als wir glauben. Embryonale Stammzellenforschung, therapeutisches Klonen, Präimplantationsdiagnostik – alleine diese drei Schlagworte lassen uns schon das Blut in den Adern gefrieren:
Sollte es tatsächlich möglich sein, kranke Babys oder solche, die eine Krankheit bereits in ihren Genen tragen, schon vor der Geburt „auszusortieren“? Und wenn ja: Dürfen wir das? Oder müssen wir es sogar? Die Meinungen im Ethikrat der Bundesregierung, ja auch innerhalb der Theologie gehen durchaus auseinander. So klar scheint das nicht zu sein, was hier gut und was hier böse ist. Bei solchen Worten wie Abtreibung, Euthanasie, dem Traum vom „Schönen Tod“ durch aktive Sterbehilfe geht es uns ähnlich: Sollte es tatsächlich möglich sein, dass Menschen andere Menschen sterben lassen, beim Sterben helfen oder sie sogar legal aktiv töten? Und wenn ja: Dürfen wir das? Oder sollen wir es etwa doch? Auch hier sind die Grenzen zwischen gut und böse nicht klar auszumachen.
Ganz besonders klar wird uns dies, wenn wir an die Katastrophe in Fukoshima denken. Dass diese Katastrophe über die Menschen dort hereingebrochen ist, ist grausam und begleitet von unermesslichem Leid. Sie ist aber nicht von Menschen verschuldet, sondern Folge der labilen Verhältnisse unseres Erdballs und seiner tektonischen Platten. Was uns aber dort zu denken geben sollte – ja geben muss: Wird diese Katastrophe nicht erst dadurch wirklich so verheerend, dass Menschen wider besseres Wissen Atomkraftwerke auf diese erdbebengefährdete Zone gebaut haben und nun immer noch so tun, als hätten sie alles im Griff? Dürfen wir nach Tschernobyl und nach Fukushima noch immer an Atomkraftwerken festhalten? Nein, das dürfen wir nicht.
„Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, von dem hat Gott gesagt: Davon dürft ihr nicht essen und daran dürft ihr nicht rühren, sonst werdet ihr sterben.“ Vom Baum der Erkenntnis des Bösen und des Guten zu essen, das ist uns nicht erlaubt. Also doch eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen? Ja, ganz gewiss, liebe Gemeinde. Bei allen Fragen der wissenschaftlichen, medizinischen, technologischen Forschung haben wir die Freiheit, unseren Verstand und unsere Vernunft und unseren Geist zu nutzen, um Grenzen zu überschreiten und neue Ziele zu setzen. Für mich sind die Bäume im Paradies dafür die Symbole: von allen Bäumen des Gartens dürft ihr essen! Aber von dem einen nicht: Vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.
Wirklich zu wissen, was gut ist und was böse, kann nur Gott allein. Wir wissen nicht, ob es wirklich gut ist, ein 280 g leichtes Frühchen mit aller Gewalt am Leben zu erhalten oder es sterben zu lassen. Wir wissen nicht, ob es wirklich gut ist, einen alten Menschen mit PEG-Sonde und künstlicher Ernährung am Leben zu erhalten oder ihn verhungern zu lassen. Wir wissen nicht, ob es wirklich gut ist, uns aus den politischen Auseinandersetzungen in der Ukraine oder im Nahen Osten herauszuhalten oder nicht doch massiv militärisch einzugreifen, um den Menschen dort zu helfen. Wir wissen nicht, was gut oder böse ist. Denn wir sind nicht Gott. Aber genau das wären wir gerne. Und das ist Sünde. Wir überschreiten Grenzen, die uns gesetzt sind. Und denken nicht darüber nach, ob es eine Grenze ist, die zu überschreiten erlaubt oder nicht. Nahezu alle Grenzen sind mit menschlichem Geist und menschlichem Können überwindbar und Gott verbietet uns auch nicht, dies zu versuchen.
Nur eine Grenze dürfen wir nicht überschreiten: So sein zu wollen wie Gott. Sobald wir uns als Richter aufspielen über Leben und Tod. Sobald wir nur noch uns selbst als höchste ethische Instanz anerkennen – uns, also den Menschen – und Gottes Willen und Gottes Gebot ausblenden oder gar rundweg abstreiten, dass es ihn überhaupt gibt, dann sind wir auf dem falschen Weg. Dann haben wir die einzige Grenze überschritten, die wirklich verboten ist, wir haben vom Baum in der Mitte des Gartens gegessen. Wir haben versucht, so zu sein wie Gott. Und – das ist das Allerschlimmste! – haben ihn dadurch verloren.
Lesen Sie Goethes Faust mit offenen Augen und offenem Herzen und es steht dieselbe Geschichte drin wie die Geschichte von Adam und Eva. Die Geschichte des Menschen, der nicht bereit ist, die letzte ihm gesetzte Grenze zu akzeptieren: „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!“ Was aber sollen wir jetzt tun? Wie können wir nun entscheiden, was gut und was böse ist? Wonach sollen wir urteilen, ob wir eine Grenze überschreiten dürfen und wann nicht?
Wir brauchen Besonnenheit, die uns vor der Hybris bewahrt, alles Machbare auch wirklich zu in die Tat umzusetzen, ohne dabei nach Gott zu fragen. Kein Geringerer als Albert Schweitzer hat die Besonnenheit in klare Worte gefasst und uns mit seinem Grundprinzip der Ehrfurcht vor dem Leben einen wirklich praktikablen Maßstab an die Hand gegeben: Böse ist: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Gut ist: Leben erhalten, Leben fördern, entwicklungsfähiges Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Mit diesen schlichten, aber überzeugenden Worten wird uns klar, von welchen Bäumen im Garten Gottes wir bedenkenlos pflücken und essen können. Und welcher Baum in der Mitte steht, dessen Früchte uns verboten sind.