Gott braucht Wohnungen auf dieser Erde
Die Liebe Christi strahlt in alle Richtungen aus, in Höhe, Länge, Breite und Tiefe
Predigttext | Epheser 3,14-21 |
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Kirche / Ort: | Karlsruhe |
Datum: | 01.06.2025 |
Kirchenjahr: | Exaudi (6. Sonntag nach Ostern) |
Autor: | Pfarrer Professor Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: Epheser 3,14-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater, der der rechte Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden, dass er euch Kraft gebe nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit, stark zu werden durch seinen Geist an dem inwendigen Menschen, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne und ihr in der Liebe eingewurzelt und gegründet seid. So könnt ihr mit allen Heiligen begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet mit der ganzen Gottesfülle. Dem aber, der überschwänglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, nach der Kraft, die in uns wirkt, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Beginnen will ich mit gleich drei Fehlern, vor denen alle Predigtlehrer warnen. Ich spreche über die Grammatik des Textes. Ich spreche über den griechischen Urtext. Und ich hole nicht Sie, die Zuhörerinnen und Zuhörer, aus Ihrem Alltag ab, sondern ich gehe umgekehrt vor. Ich stelle den Bibeltext in Ihren Alltag hinein.
I
Also: Dieses Gebet hat ein Schüler des Apostels Paulus geschrieben. Und er ist dabei so überschwänglich geworden, daß er alle Worte in einem einzigen Satz verbunden hat. Er konnte vor Glaubensbegeisterung gar nicht mehr aufhören. Er hat nur einen Punkt gesetzt. Erster Fehler. Die meisten Übersetzungen lösen die schwierige Satzstruktur im Griechischen auf in mehrere Einzelsätze im Deutschen. Zweiter Fehler. Und nun frage ich mich, dritter Fehler, was dieser schwierige Bibeltext in unserem Alltag zu suchen hätte. Beim zweiten, dritten Lesen dieses Bandwurmsatzes bleibe ich immer an der gleichen Stelle hängen.
Der Paulus-Schüler redet von Breite, Länge, Höhe und Tiefe. Er sagt nicht, worauf sich diese Raumangaben beziehen. Ich fühle mich an eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zur Montage eines IKEA-Regals oder eines Küchenschranks erinnert. Das zieht sich ewig hin, bis am Ende die entscheidende Schraube fehlt. Als zweites denke ich an den Schreibstil dieser Predigtpassage: Der eine Satz, den der Paulus-Schüler konstruiert, zieht sich in die Länge, Breite, Höhe und Tiefe. Als drittes denke ich an Gott selbst und frage mich: Ist Gott ein Würfel, bei dem Länge, Breite, Höhe und Tiefe übereinstimmen?
Länge, Breite, Höhe und Tiefe – Baumeister, Mönche und Steinmetze, Architekten und Maurer haben schon immer versucht, atmosphärische Orte für Gott und die Glaubenden zu schaffen: Kapellen, Kathedralen, Dome, Basiliken, Gemeindezentren. Man könnte nun über den Kölner Dom oder die renovierte Kathedrale Notre Dame in Paris reden, über das Kloster Eberbach oder den Berliner Dom.
Aber ich will eine kleine Kapelle in den südlichen Vogesen herausgreifen: die Wallfahrtskapelle von Ronchamps, die der französische Architekt Le Corbusier gebaut und 1955 vollendet hat. Bei der Einweihung von Notre Dame du Haut sagte er: „Beim Bau dieser Kapelle wollte ich einen Ort der Stille, des Gebets, des Friedens und der inneren Freude schaffen.“ Länge, Breite und Höhe dieser Kapelle sind ungewöhnlich zugeordnet: keine geraden Linien, keine lotrechten Wände, ein schräges Dach, kleine, unregelmäßig verteilte Fenster, eine Mischung aus weiß getünchten Flächen und grauem Beton.
Le Corbusier war ein Architekt, der über die Wirkung seiner Gebäude lange nachdachte und häufig darüber schrieb.„Architektur“, sagte er einmal, „ist das kunstvolle, angemessene und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Räume“. Der Raum, den die Kapelle umschließt, ist ganz unregelmäßig, das Gegenteil eines Würfels. Das Licht dringt durch unregelmäßig verteilte, gefärbte Glasfenster ein. Das Dach scheint über dem Gottesdienstraum zu schweben. Die Kapelle nimmt sich einen umschlossenen Raum auf einem Hügel und wird zum Symbol des Gottesdienstes und des Gebets. Höhe, Breite, Länge und Tiefe des umschlossenen Raumes schaffen ein Gefühl für Gott, schaffen Atmosphäre für Gebete und Choräle.
II
Raum und Licht. Länge, Breite, Tiefe, Höhe. Moderne Architektur und biblische Sprache.
Auf dem Hügel von Ronchamps und im Epheserbrief kommt das alles auf erhellende Weise zusammen. Die Architektur der Kapelle schließt den Bibeltext auf. Das ist keine gerade, geordnete, simple Sprache. Über die Leser kommt ein Ton des Überschwänglichen. Der Schriftsteller arbeitet nicht Definitionen und Abstraktionen ab, bemüht sich nicht um Genauigkeit und gerade Linien, sondern um Wünsche, Bitten und Lob, die sich im Ergebnis ununterscheidbar miteinander vermischen.
Kapelle und Bibeltext dienen dem gleichen Zweck. Sie wollen zeigen, daß der barmherzige Gott, der Vater Jesu Christi, in dieser Welt wohnt und sich ihr zuwendet. Himmel und Erde, das Leben der Menschen, die Natur und alles, was darinnen ist, zielen bei aller Vielfalt und Mannigfaltigkeit, nur auf ein einziges: auf die Gegenwart Gottes im Zentrum des Lebens und der Schöpfung. Kapelle und Bibeltext jubeln gemeinsam: Gott ist gegenwärtig. Er läßt die bittenden Menschen nicht allein. Er ‚wohnt‘ auf der Erde, so wie er einmal im zerstörten Tempel Salomos in Jerusalem gewohnt hat. Selbst von dessen Nachfolgebau steht heute nur noch die Klagemauer.
Gott braucht Wohnungen auf dieser Erde, obwohl er im Unsichtbaren verbleibt. Aber die Menschen sollen sein Geheimnis spüren können. In einer Kapelle wie in Ronchamps macht sich Gott sichtbar, und trotzdem wird sein Geheimnis gewahrt. Und dafür hat in den Vogesen ein kluger und sensibler Architekt gesorgt. Man könnte nun viele andere Beispiele nennen, den Kölner Dom, das Freiburger Münster. Es gibt auch Kirchen, da erscheint das schwieriger, etwa im Berliner Dom, wo die preußische Macht- und Prachtentfaltung das Geheimnis Gottes zu übertrumpfen scheint. Gott braucht Orte, an denen sich die Menschen an ihn erinnern, in Raumfluchten, Lichtperspektiven und Symbolen. Architekten fügen Längen, Breiten und Höhen zusammen, um einen besonderen Ort zu schaffen. Gott wohnt in Licht und Raum, und Kapellen zeigen das. Genauso wohnt er – so der Bibeltext – in den Herzen der Menschen. Nun verwandelt sich die theologische Architektur in theologische Psychologie.
Für den Epheserbrief findet sich in den Herzen der Glaubenden der Impuls zum Beten. Das Beten ist der Pulsschlag des Glaubens. Wenn die Menschen beten, so der Epheserbrief, dann tun sie das im Knien. Das ist eine Geste des Respekts und der Demut, für evangelische Christen ungewohnt. Wer kniet, der gibt den aufrechten Gang auf. Wer kniet, der beugt sich, aber – das ist sehr wichtig – er verkrümmt sich nicht in sich selbst. Im Mittelpunkt des Glaubens steht nicht der Mensch selbst, seine Größe, sein Ruhm, seine Handlungsmacht. Im Mittelpunkt des Glaubens steht Gott. Die Knie kratzen am Ego. Aber sie lassen Gott seinen Raum.
Eine zweite Geste des Gebets ist das Händefalten: Wer die Hände faltet zum Gebet, der wartet zuversichtlich auf das Handeln Gottes, den wir im Vertrauen und Glauben ansprechen. Und Gott handelt, in aller Gnade, in allem Überfluß und in aller Großzügigkeit. Mit ihrem Gebet erkennen Christen an, daß sie in ihrem Leben allein nicht zurechtkommen. Alle Versuche, den aufrechten Gang einzuüben, scheitern am selbstverursachten Stolpern und Stürzen. Die eingerosteten Spannungen, die Verkrümmungen und die Sünde lassen sich nicht von selbst auflösen.
Das Gebet lebt von den Zusagen und Verheißungen Gottes, der in aller Überfülle und Größe an den Menschen handelt. Aus der Geschichte des Jesus von Nazareth wissen wir: Gott ist so vorzustellen, daß er den Menschen segnend, in Barmherzigkeit und Gnade entgegenkommt, sich auf sie einläßt, sie freundlich empfängt, sie aufnimmt, sie schützt, sie pflegt und heilt, wenn sie krank sind.
Dem Beten des Menschen entspricht eine überschwengliche Offenheit, Freundlichkeit und Güte Gottes. Wegen dieser Offenheit und Güte ist Gott in Jesus Christus Mensch geworden. Aus dieser Zuwendung Gottes strömen Kraft, Hoffnung, Glauben und Vertrauen – mitten hinein in die Herzen der Christenmenschen. Die so aufgerufene geistliche Energie nährt das Vertrauen der Christenmenschen und treibt es vorwärts. Sie zielt nicht auf äußerliche Gesten, sondern auf den – wie der Epheserbrief sagt - „inwendigen Menschen“.
Diese Kraft Gottes hat einen Namen. Der kniende Beter des Epheserbriefs wendet sich an Gott und bittet um die Hilfe des Heiligen Geistes. Betend zielt er damit auf Gott selbst. Umgekehrt sagt er aber auch etwas über die Epheser, denen er dieses Gebet am Anfang seines Briefes ins Stammbuch schreibt. Wer sich im Inneren verändern will, erreicht das damit, daß er Gott um solche Veränderungen bittet. Wer sich im Glauben verändert, der nimmt Christus in sein Herz auf. Die Person des gekreuzigten und auferstandenen Jesus von Nazareth steht für eine uneigennützige, nie versiegende Liebe Gottes zu den hilfsbedürftigen Menschen.
Der Autor des Epheserbriefs nimmt seine Leser mit ins Gebet. Er nimmt sie in sein Gebet auf. Dieser Beter sieht die Glaubenden, die ihn begleiten, und gibt das in seinen Worten an Gott weiter. Das ist nicht diese unangenehm moralisierende Art zu beten, nach dem Prinzip: Lieber Gott, gib uns die Kraft einzusehen, daß wir unseren Mitmenschen helfen müssen. Bei einem solchen Gebetsruf sind die Menschen mehr gefordert als Gott. Aber richtig gebetet wird dort, wo sich Menschen umarmt fühlen, nicht dort, wo sie durch die Hintertür unangenehm bedrängt werden.
Im Zentrum des Gebets steht die Liebe, die Gott den Menschen entgegengebracht hat. Gott wirkt heilsam und zärtlich, so wie er in Jesus Christus Mensch geworden ist. Er wirkt in dem Heiligen Geist, den wir an Pfingsten als die große Kraft feiern, die in den Gemeinden der Ökumene Glauben wirkt und Hoffnung stiftet. Die Liebe Christi strahlt in alle Richtungen aus, in Höhe, Länge, Breite und Tiefe. Wer darauf vertraut, der wird sich von keiner Geste der Abwehr oder des Hasses irre machen lassen.
Niemand muß genau wissen, wie diese Kraft des Heiligen Geistes wirkt. Es genügt das Vertrauen darauf, daß diese Liebe vorhanden ist, auch wenn sie niemand wahrnehmen sollte. Wer das weiß, der kann nicht anders als Gott zu loben und zu danken.
III
Am Ende dieser Passage aus dem Epheserbrief steht jenes wunderbare Sehnsuchtswort: Gottesfülle. In ihr kommen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist untrennbar zusammen. Gottesfülle ist Gottes Gegenwart, überall, in jedem unbeachteten Findling, in jedem Sonnenstrahl des Abendrots, in jeder Schäfchenwolke, die heute über den Sonntagshimmel schwebt, aber auch in jedem Menschen, der uns heute zufällig begegnet.
Jede alte Dame, die spazieren geht, jeder wütende Autofahrer, der mir den Vogel zeigt, jeder, der gleich am Mittagstisch beim Sonntagsbraten sitzt, ist ein Ebenbild Gottes. Und genauso gilt das für die verstummte alte Frau, die im Pflegeheim im Sterben liegt und deren Atem man anhört, daß sie dem Tod nahe ist. Genauso gilt das für homosexuelle Paar, das nun zum fünften Mal den Tag seiner Segnung und Verpartnerung feiert und dazu Freunde eingeladen hat. Wohin wir uns auch wenden, in die Breite, Tiefe, Länge, Höhe, überall begegnen wir Gottes Ebenbildern, mit ihren Verletzungen und Schwächen, mit ihrer Eifersucht und ihren Fehlern, mit ihrer Würde und Verletzlichkeit.
So verschieden Menschen und ihre Lebensgeschichten auch sein mögen: In dieser Würde und Gottebenbildlichkeit unterscheiden sich die Menschen nicht. Und deswegen brauchen sie, brauchen wir alle das Gebet, damit Gottes Liebe in jedermanns Herz scheint. Auch wenn wir manchmal das Gefühl haben, von allen Kräften verlassen zu sein, Gott hat uns zugesagt, die Kraft seiner Liebe weiter zu verschenken. Das sind die Theologie, die Architektur und die Psychologie des Glaubens.
Gottes Liebe folgt einer einfachen Rechnung: Sie wächst dadurch, daß sie geteilt wird. Sie verdoppelt sich dadurch, daß sie im Gebet angesprochen wird. Und Gott läßt sich wirklich gerne bitten.