Silvester, der Altjahresabend braucht Lichtkaskaden und Lärmexplosionen, um die Befürchtungen der Herzen zu vertreiben. Licht kommt von Wachskerzen, Wunderkerzen und aufsteigenden Raketen, die sich im Nachthimmel als glitzernde Kronen entfalten. Lärm kommt von knatternden Böllern und nachtaktiven Partygästen, die lautstark ein frohes neues Jahr wünschen. In stilleren Minuten finden beunruhigtere Menschen auch Zeit, über das nächste Jahr nachzudenken. Das normale Hoffnungsmodell kreist um die Göttin Fortuna. Sie schüttet mit verbundenen Augen aus einem Füllhorn Geldsegen, Beinbrüche, Umarmungen oder unerwarteten Begegnungen aus. Weil die Göttin blind ist, verteilt sie Segen und Schicksalsschläge, ohne auf Unterschiede zwischen den Menschen zu achten.
I
Das Hoffnungsmodell des Predigers Salomo enthält im Kern keinen Motor, den der blinde Zufall antreibt. Die Kernenergie stammt aus der Ewigkeit Gottes. Man kann sich das Modell eher wie eine riesige Weihnachtskugel vom Tannenbaum vorstellen. In die Weihnachtskugel sind Kippschalter eingebaut, die jeweils zwei alternative Zustände zulassen: Abbrechen oder Bauen, Weinen oder Lachen, Klagen oder Tanzen, Zunähen oder Zerreißen. Und wenn ein nachdenklicher Gast bei einem Silvesterfondue über die Gefühlslage seines Herzens nachdenkt, dann wird er sich wiederfinden in einer bestimmten Konstellation der Schalter: Abbrechen, Lachen, Tanzen, Zerreißen. Oder Steine wegwerfen, Herzen, Schweigen, Lieben. Es ist, je nach Herzenszustand, sehr kompliziert. Das Weihnachtskugelmodell des Predigers Salomo nimmt das Leben in allen seinen Details auf. Und diese Details wechseln von Tag zu Tag und Monat zu Monat, von Lachen zu Weinen, von Klagen zu Tanzen und so weiter.
Und das kann man einen Schritt weiter führen: Wer gerade weint, der darf hoffen, daß er wieder lachen kann. Wer gerade lacht, der muß fürchten, daß es nicht ein ganzes Jahr lang so bleibt. Wer gerade tanzt, der weiß, daß er irgendwann später auch Grund haben wird zu klagen. Wer sich eingefunden hat in die täglichen Routinen seines Lebens, der weiß: Er oder sie bleibt nicht die ganze Zeit im honigsüßen Paradies, der rechnet auch mit dem weniger Angenehmen, mit dem Schwierigen, ja sogar mit Phasen andauernder Verzweiflung. Doch selbst bei diesen handelt es sich in den wenigsten Fällen um einen konstanten Zustand. Zustände verändern sich unablässig. Das Fließen von Zeit bedeutet: Plötzlich werden Schalter umgelegt, und das bewirkt manchmal sehr kleine, oft aber auch große Veränderungen in der eigenen Befindlichkeit, in der Seelenlage, im Gefühlshaushalt des Herzens. Das Barometer der Zuversicht steigt und fällt plötzlich – wie bei Wintereinbrüchen, Sommergewittern und Starkregenereignissen. Alles hat seine Zeit: Trauer und Lachen sind nicht kontinuierliche, anhaltende Zustände, sondern hängen von so vielen Faktoren ab, daß sie sich zu jeder Zeit steigern, verringern können. Enthusiasmus und Trauer sind Fließzustände.
Fließen, Verändern, Aufsteigen, Abstürzen: So in etwa läßt sich das alte Lebensmodell des Predigers Salomo umschreiben. Es präsentiert sich als ein genau bedachtes Modell des Glaubens. Leben ist durch eine Fülle unterschiedlicher Schalter bestimmt. Sie werden jeden Tag neu justiert. Dieses alte Modell des Predigers ist aber nun mit der Zeit mehrfach erweitert worden. Zwei dieser Erweiterungen werde ich gleich nennen. Und in der Gegenwart, ich würde sagen, besonders in diesem Jahr, ist dieses Modell in eine richtige Krise geraten.
II
Die erste Erweiterung der Moderne besteht in Folgendem: Der Prediger Salomo kannte sozusagen die Menschen, die gebaren oder lachten oder starben, noch persönlich. Er machte sich von den globalen Dimensionen der Welt überhaupt keine Vorstellungen. Genau diese müssen aber statistisch ergänzt werden:
Gebären hat seine Zeit: Jede Minute im Jahr 2023 und im Jahr 2024 liegen 270 Mütter in den Wehen 270 und mehr Babies. Erschöpft fangen sie an, sich dauerhaft um die kleinen Geschöpfe zu sorgen und geben ihnen als erste einen Namen.
Sterben hat seine Zeit: Jede Minute im Jahr 2023 und im Jahr 2024 sterben achtzig Menschen, weil sie altersschwach geworden sind, weil ein Tumor ihren Körper befallen hat, weil das Herz zu schwach geworden ist oder weil sie viel zu jung in einen Verkehrsunfall geraten.
Bauen hat seine Zeit: Nur auf Deutschland bezogen, werden in jedem Jahr ca. 33 Millionen Tonnen Beton verbraucht. Daraus entstehen Wohn- und Einfamilienhäuser, Tiefgaragen, Lagerhallen und Supermärkte. Das bedeutet – ebenfalls für Deutschland -, daß pro Jahr 93 km² Landschaft versiegelt werden.
Lachen hat seine Zeit: Jeder der Milliarden erwachsenen Menschen lacht ca. fünfzehnmal pro Tag. Die Erwachsenen sind damit sehr viel griesgrämiger als kleine Kinder, die nämlich bis zu mehrerenn hundert Malen pro Tag lachen.
Ich habe meine Zahlen im Internet recherchiert. Andere Statistiken liefern andere Ergebnisse. Die Pointe besteht darin: Es lachen, sterben, bauen, schweigen, lieben nicht nur zehn, hundert oder zehntausend Menschen, sondern Millionen oder gar Milliarden. Und damit verändert sich die Perspektive der Hoffnung.
III
Die zweite Erweiterung reicht bis weit hinein ins Weltall. So sehr die statistischen Auswirkungen alles menschlichen Handelns, Denkens und Sprechens auf der Erde ins Gewicht fallen: Aus der Ferne einer anderen Milchstraße betrachtet, wirkt die Erde nur wie ein Sandkorn. Das Weihnachtskugelmodell des Predigers Salomo wird gesprengt durch die unglaublichen Dimensionen des Weltalls. Schon diese Erde, auf der heute Nacht feiernde Menschen lachen, trinken und das neue Jahr begrüßen, fliegt so unglaublich riesig, vielfältig und komplex durch den leeren Raum des Kosmos. Allein die Galaxie, in der sich der Planet Erde befindet, besteht aus zwischen 100 und 400 Millionen Sternen. Das Weltall selbst wiederum enthält – mindestens – hundert Milliarden Galaxien mit einer unüberschaubaren Zahl von Sternen. Man kann sich – genauso ernüchtert wie fasziniert – die Frage stellen: Hat es da noch eine Bedeutung, wenn ein Baby Lars oder Maria geboren wird, wenn die Großmutter in hohem Alter stirbt, wenn der Ingenieur sich ein Haus baut oder wenn die junge Studentin ihren ersten Freund umarmt und ihm einen Kuß gibt? Küsse, Krankheiten und Häuserbau erscheinen im Angesicht eines unermeßlichen Universums als nicht einmal winzige Details, die sich auf den Kurs des großen Ganzen, des Globalen, des Kosmischen, des Universalen gar nicht auswirken.
Und dazu kommt: Bauen, Küssen, Umarmen, Lieben bringen die Menschen voran. Das Problem sind die Gegenpole der Schalter, die jeweils negative Seite: Hassen, Kriegführen, Verlieren, Zerreißen, Streiten. Der im Kreml isolierte russische Präsident führt einen sinnlosen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die palästinensische Hamas überzog im Oktober Israel mit Terroranschlägen ungekannten Ausmaßes. In Syrien, im Jemen, im Sudan toben Bürgerkriege. Manche Länder scheinen nur darauf zu warten, daß sich die Weltlage weiter destabilisiert, um selbst bewaffnete Auseinandersetzungen zu beginnen. Angesichts dieser Weltlage sind viele Menschen geneigt, die Silvesterparty abzusagen sowie Wunderkerzen und Sektflaschen im Keller liegen zu lassen. Gegenüber dem Weihnachtskugelmodell des Predigers zeigt sich: Krieg und Frieden wechseln sich nicht mehr ab. Raketenangriffe, terroristische Anschläge, das Verbreiten von Falschinformationen, das Schüren von Angst und Schrecken sind zum neuen Normalzustand geworden.
Das Weihnachtskugelmodell der Wirklichkeit bedarf der statistischen, astronomischen und realpolitischen Erweiterung. Und um Glaubenstrost zu finden, ist es nötig, die Theologie des Predigers genau zu studieren. Zuerst sagt er: Im täglichen Wechsel von Weinen und Lachen, von Höhen und Tiefen, Katastrophe und Enthusiasmus läßt sich das Wirken Gottes nicht wahrnehmen. Gott gehört für den Prediger in die Ewigkeit, nicht in die Zeit. Das Handeln Gottes ist nicht im Vordergrund der Wirklichkeit zu entdecken. Und das finde ich etwas sehr Modernes, was der Prediger schon vor Jahrtausenden entdeckt hat. Gottes Wirken verbirgt sich in der Ewigkeit. Aber der Prediger versteckt in seinen Gegenüberstellungen einen Gottesbeweis. Gott zeigt sich schon dann, wenn ein Mensch fröhlich ist und lachen kann. „Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.“
Nun ergaben sich im zu Ende gehenden Jahr wenige Gründe, um zu feiern und fröhlich zu sein. Im Gegenteil, es ist geradezu zum Kennzeichen dieses Jahres geworden, daß die meisten Menschen eine große innere Unruhe erfaßt hat, wenn sie an Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Hurrikans, an Terroranschläge, Drohnenangriffe, Kriegsdrohungen denken. Viele Menschen nehmen so etwas wie ein starkes ‚Wackeln‘ im gesamten globalen System wahr, und das ist an die Stelle früher empfundener Stabilität getreten. Dieses ‚Wackeln‘ vergrößert die allgemeine Unruhe: Schlimmeres ist zu befürchten, im nächsten Jahr, in kommenden Jahrzehnten.
Eine Predigt wird diese Schwierigkeiten nicht hinwegreden oder politische Ratschläge zu ihrer Beseitigung auflisten. Aber zwei Hinweise will ich am Ende geben, die Hoffnung machen. Der erste Hinweis lautet: Der Prediger Salomo zählt Gegensätze auf, Lachen und Weinen, Klagen und Jubeln. Je schlimmer sich Klagen, Trauern, Streiten und Plagen gestalten, desto mehr darf auch die jeweils andere Seite nicht fehlen: Niemand kann ohne Hoffnung, ohne Lachen und Umarmungen und Liebe leben. Man kann so weit gehen zu sagen: Wo Fröhlichkeit und Freundlichkeit herrschen, da ist Gott gegenwärtig.
Der zweite Hinweis: Der Prediger Salomo hat die Gegenwart Gottes zu Recht der Ewigkeit zugeordnet. Wir Menschen sind aufgefordert, uns selbst um die vermeintlichen Kleinigkeiten des Lebens zu kümmern. Aber dieser Gott – und damit gehe ich über den Prediger deutlich hinaus – ist auch Mensch geworden. Gerade an Weihnachten haben wir gefeiert, daß der ewige, unsichtbare Gott in einem kleinen Baby in Windeln Gestalt gewinnt. Alltag, unser Alltag steht genau zwischen der Ewigkeit Gottes, die alle Zeit überschreitet, und auf der anderen Seite seiner gegenwärtigen Unscheinbarkeit: Gott ist das winzige Kind, das gestillt, gekleidet, behütet und umsorgt wird. Gott ist zugleich in der Ewigkeit und in der Gegenwart. Gott ist im Detail, in der Einzelheit. Gott ist im schreienden Baby. Unser aller Leben steht dazwischen. Es steht zwischen Lachen und Weinen, Streiten und Heilen, Gebären und Sterben. Genau das gibt uns Hoffnung, große, beruhigende Herzenshoffnung in der Dämmerung des alten, im Morgengrauen des neuen Jahres. Der Friede Gottes, der aus der Ewigkeit in die Gegenwart einsickert, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.