Ein fröhliches Fest
In Jerusalem wurde wie in jedem Jahr das Laubhüttenfest gefeiert. Da war man guter Dinge. Mal raus aus dem Alltag, eine willkommene Unterbrechung des täglichen Einerleis. Freunde, Bekannte und Verwandte treffen. Gleichzeitig konnte man der religiösen Pflicht nachkommen, nach Jerusalem zu pilgern. Es war erhebend, im Tempel an den schönen Gottesdiensten teilzunehmen, den Darbietungen der Chöre zu lauschen und die interessanten Diskussionen der geistigen Eliten zu verfolgen. Damals war es ähnlich wie heute, wenn man Volksfeste besucht. Es gab jede Menge Verkaufsstände, an denen man sich mit Essen und Trinken versorgen konnte, und auf den Basaren wurden alle möglichen Dinge verkauft: Hausrat, Schmuck, Kleidung, Sandalen, Viehzeug, religiöse Symbole zur Erinnerung an die schönen Tage oder als Mitbringsel für die daheim gebliebenen Lieben. Tausende besuchten das Laubhüttenfest, das bis heute als eines der fröhlichsten Feste gilt.
Manche meinen sogar, es seien Zehntausende gewesen, die sich auf der Feiermeile amüsierten. Jesus hat dieses Fest ebenfalls besucht. Kritische Bemerkungen über das bunte Treiben hört man von ihm nicht. Er hatte wohl Verständnis für den Wunsch der Menschen nach Abwechslung und Freude am Feiern. Allerdings gab es für ihn eine Grenze. Das geschäftliche Treiben der Geldwechsler und Viehhändler im Tempel ging für ihn zu weit. Da hat er mehrfach aufgeräumt und für Ordnung gesorgt. Ob es genützt hat? Ich bin der Meinung: Ja. Seine so genannten Tempelreinigungen haben Wirkung gezeigt. Nicht sofort. Aber später, nachdem im Jahre 70 die Römer den Tempel zerstört hatten, wurde in den in der Diaspora neu gebauten Synagogen und Tempeln der Tieropferkult nicht wieder aufgenommen, und damit entfielen auch die unschönen und unwürdigen geschäftlichen Aktivitäten, die Jesus in heiligen Zorn versetzt hatten.
Betesda
Dicht neben dem fröhlichen Treiben gab es eine Stätte, an der Krankheit und Verzweiflung zu Hause waren, an der aber auch immer wieder Hoffnung aufblühte. Betesda, zu Deutsch: Haus der Barmherzigkeit. Etwa 200 v. Chr. hatte man hier eine unterirdische Quelle zu einer bemerkenswert großen Krankenhausanlage ausgebaut: 2 Wasserbecken, je 120m lang und 6om breit, unterbrochen von einem 6m breiten Steg. Die Anlage war umbaut mit 4 Säulenhallen, 6m hoch und einer Halle auf dem Steg. 5 Hallen für die „Kranken, Blinden, Lahmen und Ausgezehrten“ wie es im Evangelium heißt. Es gab die Legende, dass von Zeit zu Zeit ein Engel das Wasser in Wallung brachte und damit heilende Wirkung erzeugte, und wer als Erster ins Wasser gelangte, Heilung oder wenigstens Linderung finden würde. Hier gaben sich Glaube, Aberglaube, Hoffnung, Zuversicht, Enttäuschung und Verzweiflung ein Stelldichein. Interessant ist, dass Jesus darüber keine abfällige Bemerkung gemacht hat. Er versteht es, wenn wir uns in Krankheitsnot an Strohhalme klammern, jeden Funken Hoffnung zu einem hellen Licht der Zuversicht werden lassen.
Jesus verurteilt auch nicht den Egoismus der Menschen, die als Erste ins Wasser strebten, oft robust unterstützt von Angehörigen und Freunden, die ihnen dabei halfen. Er kennt uns und liebt uns, auch wenn unsere Nächstenliebe oft zu wünschen übrig lässt. Auch wenn hier jeder sich selbst der Nächste ist und auf den eigenen Vorteil bedacht, trägt Betesda doch seinen Namen zu Recht: Haus der Barmherzigkeit. Hier sorgte man sich um die Kranken. Nicht nur, dass man ihnen diese 5 Hallen gebaut hatte, sondern dass sie dort von Angehörigen und Freunden besucht werden konnten. Wie viel Gutes, welche Barmherzigkeit wurde ihnen erwiesen, wenn ihnen das tägliche Essen gebracht wurde, wenn man ihre Kleidung wusch, ihnen Trost und Zuversicht zusprach, ihnen die Zeit vertrieb, wenn man Neuigkeiten aus der Familie und der Nachbarschaft mitteilte und ihnen half im Kampf um einen guten Platz, wenn es darum ging, das heilende Nass als Erster zu erreichen. Nicht umsonst tragen viele Krankenhäuser in Erinnerung an jene biblische Geschichte den Namen „Betesda“ als ihr karitatives Markenzeichen.
Hierhin, nach Betesda, zieht es Jesus. Bei den feiernden Festbesuchern war er auch gern. Aber den Kranken, den Verzweifelten, den Mutlosen nahe zu sein, war ihm besonders wichtig, darin sah er seine eigentliche Berufung. Und das gilt bis zum heutigen Tage. Jesus hat ein Herz für die, deren Lebensträume zerbrochen sind. Mit seiner Liebe umfasst er die, die alle Hoffnung verloren haben, die sich aufgegeben haben, die von diesem Leben nichts mehr zu erwarten haben, die mutlos und kraftlos geworden sind, deren Gemüt sich verdunkelt hat. Ihnen gilt in besonderer Weise seine tröstende Nähe. Seine Worte sind Nahrung für die matten Seelen und zerbrochenen Herzen. Sie dürfen die Wahrheit seiner Zusagen erfahren: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“
Neues Leben
Und da gibt es diesen armen kranken Mann, der seit 38 Jahren gelähmt ist und von Jesus angesprochen wird: Ob er gesund werden will? Was für eine Frage. „Soll wohl ein Witz sein“ wird er bei sich gedacht haben. Er beantwortet sie auf seine Weise, indem er darüber jammert, wie einsam er ist, dass er niemanden hat, der ihm hilft und immer zu spät kommt, wenn das Wasser anfängt, sich zu regen. Jesus nimmt dazu keine Stellung, obwohl er dazu manches hätte sagen können. Er hört sich sein Zetern und Klagen an und macht ihn gesund. Ohne weitere Umstände. Jesus handelt mit göttlicher Souveränität. Später erklärt er sein Tun. Er handelt in Harmonie, im Einverständnis mit dem himmlischen Vater.
Jesus tut Wunder im Namen und in der Kraft Gottes. „Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch.“ (V. 17) Es ist eine der schönsten und gültigsten Erklärungen für das Wirken des Gottessohnes von Ewigkeit her bis heute und für alle Zeit. Wie viele Wunder können wir im eigenen Leben und im Leben unserer Angehörigen und Freunde bezeugen. Wie oft sind wir aus lebensbedrohlicher Krankheit gerettet worden. Wie gut hat Gott die Hände der Ärzte geführt, die uns operiert haben. Wie oft sind wir im Straßenverkehr vor Unfällen bewahrt geblieben. Unendlich lang ist die Liste der Wunder, die Gott bei uns und denen, die uns nahe stehen, getan hat, so dass wir immer wieder gerne singen: „in wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“
„Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!“ Ein knapper, nüchterner Kommentar für ein außerordentliches Heilungswunder. Wie wird der Geheilte darüber berichten? Über seinen Glauben gibt es nichts zu sagen. Vielleicht hatte er gar keinen Glauben, war möglicherweise Atheist. Jesus hat ihn auch nicht darnach gefragt. Vielleicht wird er sagen, wie viele von uns: „Glück gehabt“ oder wenn wir die christliche Variante bevorzugen: „Gnade gefunden“. Ist es nicht wunderbar, wie großzügig unser Herr ist? Er gibt Glück und Gnade ohne unser Zutun, ohne unser Verdienst, ohne irgendeine Leistung vollbracht zu haben. Luther hat es im Kleinen Katechismus sehr schön in Worte gefasst: Der „mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit“. Das gilt auch für die, die keinen Glauben haben, auch für die, die Jesus nicht kennen, so wie der Geheilte im Evangelium, der zunächst gar nicht wusste, wem er sein Gesundwerden zu verdanken hatte. Aber mehr noch dürfen wir, die wir zu seiner Gemeinde gehören, ihn als den erkennen und verehren, der uns und allen Menschen zum Helfer, Erlöser, Retter und Heiland geworden ist.
Sündige nicht mehr
Jesus hatte den Geheilten mit einem aufmunterndem Wort entlassen: „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!“ Das griechische Wort für „geh hin“ bedeutet wörtlich übersetzt: „Geh herum“. Er sollte Spaziergänge machen, Wanderungen unternehmen, die Welt zu Fuß erkunden. Das musste man ihm nicht zweimal sagen. Er nahm seine Matratze und machte sich auf den Weg, zunächst zu den feiernden Menschen. Das Leben hatte ihn wieder. Ohne Hilfe unterwegs sein zu können, davon hatte er immer geträumt, darnach hatte er sich jahrelang gesehnt. „Dass ich das noch einmal erleben darf“ hat er vielleicht staunend immer wieder vor sich hin gesprochen, und wir können es nachempfinden, wenn wir eine ähnlich wunderbare Wendung des Geschicks erfahren haben.
Im Tempel traf er auf seinen Heiler, auf Jesus. Der hatte ein Wort für ihn, von dem die Ausleger nicht so recht wissen, wie sie es deuten sollen: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.“ Gab es in seinem Leben, vielleicht in der Vergangenheit, ein sündhaftes Verhalten, das er ändern musste? Oder wird auf seinen fehlenden Glauben angespielt, oder seine mangelnde Dankbarkeit? Oder liegt seine Sünde darin, dass er Jesus nicht nachfolgen wollte? Ich glaube, die Erklärung ist viel einfacher. Seine „Sünde“ bestand darin, dass er noch immer seine Matratze mit sich herumtrug, und zwar am Sabbat. Das war verboten. Die allgegenwärtige Religionspolizei hatte ihn deswegen schon verwarnt. Wegen eines solchen Vergehens konnte man hart bestraft werden, sogar mit dem Tod. Darauf hat ihn Jesus hingewiesen, wenn er ihn zur Vorsicht mahnt.
Es könnte ihm Schlimmeres geschehen, als gelähmt zu sein, nämlich gesteinigt zu werden. Mit anderen Worten: „Sieh zu, dass du deine Matratze los wirst. So lange du sie mit dir herumträgst, wird dir das als schwere Sünde angekreidet.“ Mancher mag in dieser Matte, von der er sich trennen soll, auch ein Symbol erkennen für das alte, kranke Leben, das er nun hinter sich lassen kann, um froh und unbelastet in die Zukunft zu starten. „Vergib mir meine Sünden, und wirf sie hinter Dich“ (aus dem Lied: Herr Jesu, Gnadensonne – Ludwig Andreas Gotter) so singt es die Gemeinde und erinnert daran, dass auch wir das Wunder des Neubeginns erleben dürfen, wenn Gott uns hilft, unser altes, oft mit Schuld und Unfrieden belastetes Leben zurückzulassen, um uns zuversichtlich der Zukunft zuzuwenden.
„Sie zu, dass du deine Matratze los wirst“: Das ist auch ein freundschaftlicher Rat, vielleicht augenzwinkernd erteilt von jemandem, der wegen derselben Angelegenheit Ärger mit der Obrigkeit hatte. Jesus machte man auch den Vorwurf, gegen ein wichtiges Gesetz verstoßen zu haben, weil er seine Heilung an einem Sabbat vollzog. Es wurde sogar eine Konferenz einberufen, um über diesen Vorfall zu beraten und gegen ihn vorzugehen. Wir empfinden es zu Recht als kleinlich, und es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, wenn ein Heilungswunder als Vergehen gebrandmarkt und das Tragen einer Liegematte zu einem Gesetzesverstoß aufgebauscht wird, nur weil gerade Sabbat ist. Hier geht es nicht darum, das Sabbatgebot auszuhebeln, sondern seine Unverhältnismäßigkeit gegenüber dem außergewöhnlichen, wunderbaren Heilungsgeschehen zu demonstrieren. „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats willen.“, so urteilt Jesus (Markus 2,27).
Versöhnlicher Schluss
Wie ist die Angelegenheit ausgegangen? Im Geiste sehe ich Jesus mit dem Geheilten durch den Tempel gehen. Da singt ein Chor den 103. Psalm. Jesus schaut seinen Begleiter an, sagt zu ihm: „Das ist dein Lied“. „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler.“