Weiß und schwarz
“Wir machen das nicht mehr mit”, so tönten die weißen Tasten, “schwarze Tasten raus! Wir brauchen euch nicht!” “Was haben wir euch denn getan?” fragte leise eine der schwarzen Tasten, “machen wir uns nicht schon dünn genug?”
– “Ihr habt nichts getan. Ihr seid schwarz, und wir sind weiß, das passt nicht zusammen. Wir wollen unter uns sein. Wenn ihr nicht freiwillig geht, treten wir in den Streik.” “Und außerdem”, fügte eine weiße Taste hinzu, “billiges Holz und echtes Elfenbein passen auch nicht gut zusammen. Wir haben Werte zu vertreten.”
– “Aber”, gab eine schwarze Taste zu bedenken, “wir sind immerhin aus Palisander, das ist auch wertvoll.”
– “Papperlapapp”, fuhr eine weiße Taste dazwischen: “Ihr engt uns ein. Ohne euch hätten wir viel mehr Platz auf der Klaviatur. Seht euch das doch an: Überall sind wir eingeschnitten. Für beide ist hier kein Platz.”
– “Moment mal, Jungs”, mischte sich da eine alte Saite aus dem Bassbereich ein, “Wir kriegen miteinander zwölf Dur-Tonarten zusammen und zwölf Moll-Tonarten und vieles mehr. Wenn ihr die Schwarzen rausschmeißt, geht nur noch C-Dur, nicht einmal a-Moll wird vollständig sein. Ist euch das nicht ein bisschen eintönig?”
– “Na und”, entgegnete die weiße Taste, die zu dieser Saite gehörte. “Dur heißt hart, und wir bleiben hart. Schwarz raus!”
Alles Argumentieren half nichts. Die Schwarzen wurden vertrieben, und die Weißen hatten endlich mehr Platz. Nur: Bald wollte niemand mehr das Klavier hören, es war zu eintönig geworden. Es konnte keine gute Musik mehr machen. Bald stand es nur noch unbeachtet und verstaubt in einer Ecke herum. (Wolfgang Gerts, aus: Predigterzählungen – Erzählpredigten, Hannover 2006)
Unterschiedliche Ansichten
Damals wie heute begegnen wir dieser Tatsache: Es gibt verschiedene Ansichten innerhalb einer Gruppe und man streitet darüber, wer Recht hat. Leider geschieht das oft sehr radikal. Verschiedene Meinungen und Ansichten bereichern in der Regel eine Gruppe. Eine Auseinandersetzung, wenn sie fair geführt wird, schärft die jeweils eigene, nach außen vertretene Ansicht. Das Dilemma aber ist oft: In der eigenen Überzeugung, Recht zu haben, wird den Andersdenkenden das Recht abgesprochen, ihre Meinung zu vertreten. Es mangelt an der nötigen Toleranz, um Andersdenkenden das zuzustehen, was man ja gerade für sich lautstark beansprucht. Menschliche Größe zeigt sich aber genau darin, dass man andere Meinungen gelten lässt. So kommt es mitunter zu einer unversöhnlichen Haltung, die nur die eigene Sicht der Dinge verstehen will.
Vielleicht hat Sie das auch ein wenig irritiert zu hören, dass “das Reich Gottes nicht aus Essen und Trinken besteht”. Daran zeigt sich, wie missverständlich ein Bibelwort sein kann, wenn man es aus seinen Lebensbezügen herausnimmt. Es ist unerlässlich, das biblische Wort in dem Lebenszusammenhang der damaligen Zeit zu sehen, um es auch verstehen zu können. Der Grund für die Aussage, dass “das Reich Gottes nicht aus Essen und Trinken besteht”, liegt in dem Streit der römischen Gemeinde, auf den Paulus antwortet. In dieser Auseinandersetzung stehen sich zwei Meinungen innerhalb der christlichen Gemeinde in Rom konträr gegenüber. Die einen sind davon überzeugt, nach strengen Maßstäben zu leben. Deshalb essen sie kein Fleisch, sie trinken keinen Wein, und halten darüber hinaus noch regelmäßige Fastentage ein. Ihr Leben ist geordnet und sie sind dieser Lebensordnung streng gehorsam. Die anderen, innerhalb der christlichen Gemeinde zu Rom in der Mehrzahl, zeigen sich aus solchen Zwängen befreit um Christi Willen. Sie fühlen sich an solch eine einengende Gesetzlichkeit nicht mehr gebunden.
So zeigt sich die Gemeinde gespalten. Die kleinere Gruppe behauptet: Wenn ihr so lässig und ungebunden lebt, ja dann seid ihr keine echten Christen mehr. Die größere Gruppe der Befreiten spottet über die, die in einer ängstlichen Lebensführung verhaftet bleiben und werfen ihnen vor, in vorchristliche Zeiten zurückzufallen. So geht ein Riss durch die Christengemeinde zu Rom: Auf der einen Seite die Schwachen und Ängstlichen – und darum Gesetzestreuen, auf der anderen Seite die Starken und Freien – und darum die vom (Speise-)Gesetz Losgelösten. Bis heute ist das nicht anders: Da verläuft eine Konfliktlinie zwischen Traditionalisten und Fortschrittlichen. Die einen wollen, es muss so bleiben, wie sie es gelernt haben. Die anderen streben nach Veränderungen und suchen neue Ausdrucksmöglichkeiten für ihren Glauben. Da sind die Ängstlichen einerseits und die Mutigen andererseits. Die einen halten sich streng an die alten Ordnungen. Die anderen gehen damit frei um und leben diese Freiheit fantasievoll. Für die einen zeigt sich ihr Christsein im Gesetz. Die anderen sehen ihr Christsein in der Freiheit.
Was dem Frieden dient
Entlang dieser Konfliktlinie stehen sich auch heute Menschen in unseren christlichen Gemeinden gegenüber. Wir sehen zunehmend, dass das menschliche Zusammenleben sich nicht mehr nur an dem althergebrachten Familienbild orientiert. Die Vielfalt der familiären Lebensformen nimmt zu. Da sehen wir Kernfamilie oder Großfamilie, Regenbogenfamilie oder Patchworkfamilie, Alleinerziehende oder Adoptivfamilie. Und manch neue Form wird sich mitunter noch herauskristallisieren. Die Traditionalisten werden darauf bestehen, dass nur die Familie aus Vater, Mutter und Kinder die wahre Form des Lebens ist. Sie werden dafür ihre Argumente finden, vielleicht auch angeblich biblisch-christliche – und sich sagen lassen müssen, dass sie nur an der Form hängen, aber nicht bedenken, ob das Zusammenleben auch harmonisch funktioniert. Die Fortschrittlichen werden sich den neueren Formen des familiären Zusammenlebens gegenüber offen und verständnisvoll zeigen. Sie werden alte Muster infrage stellen – und sich vorwerfen lassen müssen, dass sie dem Zeitgeist nach dem Munde reden. Zwischen diesen beiden Lagern kann eine gewisse Unversöhnlichkeit stehen, die scheidet in ewig Gestrige und moderne Freigeister.
Paulus könnte in diese Auseinandersetzung hinein sagen: „Das Reich Gottes ist nicht Heiraten und Familie, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist”. Die Seligkeit eines Menschen hängt also nicht am „Essen und Trinken“ oder am „Heiraten und Familie“ an. Sie hängt vielmehr daran, dass wir dem nachstreben, was dem Frieden dient und was uns untereinander wertschätzen lässt. „Der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet“, wer sich um den Frieden müht und andere genauso gelten lässt, wie man selbst akzeptiert werden möchte. Wer nicht seine eigene Meinung im Vergleich mit anderen für die bessere hält, sondern tolerant gerecht bleibt. Wer sich darüber freut, dass Gott meine Mitmenschen gleich liebt wie mich auch. Jetzt können wir verstehen, warum Paulus sagt: “Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist.” Paulus lässt gelten, dass man auf verschiedene Weise sein Christsein leben kann. Ihm ist dabei ganz wichtig, dass man die neben sich gelten lässt, die anderer Meinung sind, die ihrem Christsein einen anderen Ausdruck geben, die einem darin auch fremd vorkommen können.
So lenkt Paulus unseren Blick weg von der falschen Frage, wer die besseren Tasten sind: die weißen oder die schwarzen?! Das, so meint Paulus, ist eigentlich völlig unwichtig! Wichtig ist, dass beide Tastenarten gut zusammenspielen können und das Klavier, sprich die Gemeinde, zu einem Wohlklang in allen möglichen Dur- und Moll-Tonarten fähig ist. So widerfährt beiden Tastenarten Aufmerksamkeit in gerechter Weise. So zeigt sich Frieden im Wohlklang des Instruments. So erklingt die Musik zur Freude aller. In diesem Bilde kann man verstehen, wie Gerechtigkeit, Friede und Freude das Reich Gottes sichtbar machen. Am Ende ermutigt uns Paulus: “Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.” Das ist der Maßstab unseres Christseins! Um es noch einmal in der Sprache der Musik zu sagen: Wir sind nicht dazu da, Dissonanzen zu erzeugen und auf unsere Missklänge stolz zu sein oder anderen einen falschen Ton zu unterstellen. Wir sind dazu da, ganz gleich, ob wir eine weiße oder eine schwarze Tasten sind, mit anderen Tasten zusammen als ein Instrument ein wohlklingendes Musikstück aufzuführen zur Ehre Gottes und zur Freude unserer Mitmenschen.