Kleine Fluchten – Innehalten mitten im Alltag
Der Sommer ist vorbei. Nicht nur auf dem Kalenderblatt beginnt heute der Herbst, auch auf den Straßen und Schulhöfen wird es morgen sichtbar und hörbar: die Sommerferien sind zu Ende. Der Alltag hat uns wieder, in der Schule und im Beruf, in der gewohnten Umgebung und der gewöhnlichen Betriebsamkeit, inmitten vertrauter Menschen und vertrauter Abläufe. Doch Moment – das ist ja erst Morgen! Heute lassen Sie uns noch einmal innehalten und zurückdenken, an die freie Zeit, die hinter uns liegt, die Sommermonate, die wie eine kleine Auszeit waren in der Mitte des Alltags. Die Sommerferien: sie stehen für Freizeit und Abenteuer, Inspiration und Anregung, zur Ruhe kommen und sich einmal richtig auspowern, Zeit der Begegnung oder der Besinnung. Dabei kommt es gar nicht darauf an, wo man seine Ferienzeit verbracht hat, ob man bei den Ferienspielen in die Steinzeit eingetaucht ist oder den Ostseestrand erkundet hat, ferne Länder bereist hat oder im heimischen Garten ungelesene Bücherwelten erschlossen hat. Die Ferienzeit – sie ist wie ein Auszeit, die mich für eine wohltuende Weile austeigen lässt aus Alltag und Gewöhnung – mich einlädt und verlockt zu „Kleinen Fluchten“, so der Name des kleinen Reisebüros auf dem Weg nach Bielefeld. Es braucht wohl solch „Kleinen Fluchten“, die mich dem Alltag entheben, dass ich innehalten kann: Nachdenken über das, was war; Besinnen auf das, was ist und Ideen für das, was sich vielleicht verändern soll. So schöpfe ich neue Kraft für die Zeit und den Weg, der vor mir liegt. Nicht von einer „Kleinen Flucht“ in der Mitten im Alltag, sondern von einer „Großen Flucht“ in der Mitte des Lebens handelt unser heutiger Predigttext. Und doch ähnelt das, was Jakob dabei in einer Nacht erlebt, dem Reichtum an Erfahrungen, den auch wir im Rückblick auf unser Innehalten mitten im Alltag entdecken können.
(Lesung des Predigttextes)
Die Große Flucht – Innehalten mitten im Leben
Mit hinein genommen werden wir in die Geschichte der Brüder Esau und Jakob. Obwohl sie sogar Zwillinge sind, sind die beiden Brüder von Geburt an verschieden: Jakob wächst auf wie ein Märchenprinz. Sanft ist er und sensibel, nachdenklich und nachgiebig. Keineswegs hart im Nehmen. Er ist der Liebling seiner Mutter. Seine Schwächen fallen in ihren Augen kaum ins Gewicht. Und so wächst in ihm die Gewissheit, sich im Leben alles herausnehmen zu dürfen. Ganz sicher ist er sich: die Welt liegt mir zu Füßen. Ich nehme mir, was ich brauche. Und meistens klappt das auch: nicht mit Kraft, aber mit Witz und Geschick, oft auf Kosten anderer. So betrügt er seinen Bruder Esau mit List und Tücke um den Segen Gottes, der eigentlich und nur dem Erstgeborenen zusteht. Ganz anders als Jakob ist sein Zwillingsbruder Esau: etwas grobschlächtig, aber stark. Er ist der Liebling seines Vaters. Und so erfüllt Esau für ihn ganz selbstverständlich seine Pflicht, schafft mit seinen Händen das Nötige, nicht gern, aber willig. Erst nur ganz dumpf spürt er, dass Jakob ihm mit dem Segen etwas Lebens-notwendiges geraubt hat. Es quält ihn das Gefühl, im Alltag unterzugehen, das Eigentliche im Leben zu verpassen. Doch dann kommt die Müdigkeit, er legt die Beine hoch: ein gutes Essen noch und dann der neue Tag, der nächste Alltag. Es wird nichts Neues geben und keine Veränderung. Man muss sich zufrieden geben mit dem, was man hat, mit dem, was ist. Nicht mehr, nicht weniger.
Während der eine sich einfindet, sich abfindet mit seinem Alltag und den Alltäglichkeiten,
beim besten Willen nichts Neues mehr erwartet, von sich, von den Menschen und von Gott, geht der Sieger Jakob doch ungesättigt davon. Durch den Betrug heimatlos geworden sucht er neue Heimat, und wird selber betrogen: Zwei mal sieben Jahre muss er seinem Schwiegervater Laban als Knecht dienen, bis er endlich seine geliebte Rahel heiraten kann. Immer wieder ist er gefordert neu zu überlegen, zu improvisieren. Der Lebenshunger bleibt ungestillt, nie kann es alles gewesen sein. Wohlstand und Wohlergehen können ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass es da eine Leiche im Keller seines Lebenshauses gibt. Der Weg, den er in Zukunft gehen möchte, zurück nachhause, zu seiner Familie, zu Esau, ist ihm versperrt durch den Weg der hinter ihm liegt.
Mitten im Leben, mitten im Alltag Bilanz ziehen
So drückt ihn das Gewicht der eigenen Lebensbilanz, der Erfolge wie des Scheiterns im wahrsten Sinne des Wortes, wenn der heutige Predigttext davon spricht, dass er seinen Kopf auf Steinen bettet. Vieles hat er erreicht, vieles ist gut, manches ist auch verkehrt gelaufen, aus eigener Schuld oder weil da andere waren, die ihm Steine in den Weg legten. Mit diesen Gedanken schläft er ein. Er tut nichts, und er denkt auch nichts. Er kommt zur Ruhe, er findet Ruhe. Die Bibel erzählt uns nichts darüber, ob Jakob sich in diesen Jahren, an diesem Abend, in der Mitte seines Lebens, auch diese Frage nach Gott und seinem Segen gestellt hat. Wir hören jedoch davon, dass Gott sich in dieser Nacht bei ihm in Erinnerung bringt, und seinen Segen nach allem und trotz allem erneuert. Und er tut dies im Traum. Denn gerade, wenn man müde ist und kraftlos, dann kommen die Träume. Und Träumen das heißt nichts anderes: als immer wieder Hoffnung zu haben und an die Zukunft zu glauben. Jakob träumt in dieser Nacht von einer Himmelsleiter.Von einer Leiter, mit der Gott Himmel und Erde, unser Leben und seinen Segen, miteinander verbindet. Dieses Bild findet seinen guten Ort auch für uns, sei es mitten im Alltag, sei es in der Mitte des Lebens. Denn wo wir Innehalten und zur Ruhe finden, kommt Gott zu uns, finden Auszeit und Alltag zusammen. Er bestärkt uns in der Hoffnung, dass wir von ihm Gesegnete sind. Aus dieser Gewissheit können wir Kraft schöpfen für die Zeit und die Wege, die vor uns liegen.
Hoffnung schöpfen und sich des göttlichen Segens vergewissern
Doch unsere Hoffnung braucht – wie jede Leiter – eine feste Verankerung auf der Erde, festen Boden unter den Füßen. Sie muss ihr Fundament haben in meinem Leben, wie es ist, nicht wie es sein könnte oder sollte, oder sich in der Auszeit gestaltet. Im Alltag und für den Alltag mit seinen Höhen, aber auch mit seinen Tiefen, im Gelingen wie im Scheitern soll ich seinen Segen spüren. Denn auch das andere ist sichtbar und spürbar: die Leiter hat einen festen Haltepunkt am Himmel, sonst wäre sie haltlos und wir könnten nichts von ihr halten. In Jakobs Traum steht oben an der Leiter Gott selbst, und er hält sie zuverlässig fest: für Jakob, der ein für alle Mal unter dem – wenn auch erschlichenen – Segen Gottes steht und für uns, die wir jeder und jede den Segen Gottes in unserer Taufe zugesprochen bekamen. Jakob träumt dies, Jakob sieht dies und er sieht es ein. Und so als ob Gott dieses Einsehen bestätigen würde, wiederholt er – mitten im Leben und mitten im Alltag seinen Segen für den, der seinen Weg immer noch vor sich hat: Und siehe, ich bin mit dir und ich will dich behüten, wo du hinziehst …denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe oder, wie wir es nun miteinander singen wollen:
So geht dein Segen auf allen Wegen,
bis die Sonne sinkt, mit uns fort.
Du bist der Anfang, dem wir vertrauen,
du bist das Ende, auf das wir schauen.
Was immer kommen mag, du bist uns nah.
Wir aber gehen, von dir gesehen,
in dir geborgen durch Nacht und Morgen
und singen ewig dir: Halleluja.