Auf die Blickrichtung kommt es an. Sie erinnern sich alle an die streng bevormundenden Geschichten vom Struwwelpeter, besonders an Hanns (mit doppeltem n) Guck-in-die-Luft: „Wenn der Hanns zur Schule ging,/ Stets sein Blick am Himmel hing./ Nach den Dächern, Wolken, Schwalben/ Schaut er aufwärts, allenthalben:/ Vor die eignen Füße dicht,/ Ja, da sah der Bursche nicht (…).“ Der Blick des Schülers schweift in die phantasievolle Ferne; dabei übersieht er die Stolperfallen vor seinen Füßen und das zieht böse Folgen nach sich.
I.
Heute verhält sich genau umgekehrt: Spaziergänger und andere junge Leute richten die Augen nicht mehr in die weite Ferne. Sie halten Kopf und Nacken gebeugt und starren auf den Bildschirm des Smartphones, um die Zeit während des Laufens zu überbrücken. Das ist aber genauso gefährlich wie der dauernde Blick in den Himmel. Denn das Starren auf das Smartphone lenkt von den Gefahren am Weg ab. Städtische Ordnungsämter haben bereits auf dieses Phänomen reagiert und Verkehrszeichen am Boden eingerichtet. Blinkende Leuchtzeichen am Boden warnen nun vor der Straßenbahn und bewegen hoffentlich daddelnde Handynutzer, rechtzeitig zu stoppen; zumal wenn sie wegen ihrer Earphones die Geräusche in der unmittelbaren Umgebung nicht wahrnehmen. Es würde sich lohnen, sich umzuschauen und wahrzunehmen, was im eigenen Sichtfeld geschieht, um nötigenfalls zu stoppen oder die Richtung zu ändern.
Ein bekannter Soziologe sagte vorletzten Samstag in einem Interview: „Mit Hilfe des Smartphones ist uns gewissermaßen die ganze Welt unmittelbar am Leib verfügbar“. Die virtuelle Welt auf dem winzigen Bildschirm lenkt die Aufmerksamkeit weg vom phantasieanregenden Wolkenhimmel des Hanns Guck-in-die-Luft und vom unmittelbaren Sicht- und Gefahrenbereich der Fußgänger.
Jesus von Nazareth, aus dessen Bergpredigt wir gerade einen Ausschnitt voll Weisheit, Naturliebe und Gottvertrauen gehört haben, empfiehlt den konzentrierten Blick hinein in die Natur, auf Vögel zuerst und dann auf Lilien. Es lohnt sich, öfter mal die Blickrichtung zu wechseln und sich zu Zwecken eigener Lebenshilfe umzuschauen und umzuhören.
Bevor ich auf die Lebenshilfe für uns komme, will ich Ihnen zwei Beispiele aus der Kulturgeschichte kurz schildern. Den Blick in die Natur hat der lutherische Liederdichter Paul Gerhardt (1607-1676) aufgenommen, in seinem sehr bekannten Sommerlied: „Geh aus mein Herz und suche Freud“. Das Lied ist fünfzehn Strophen lang. In der ersten Hälfte staunt das lyrische Ich über die Schönheit von Pflanzen und Tieren; in der zweiten Hälfte bringt es diese Schönheit in Verbindung mit Vertrauen in die Schöpfung und Liebe zu Gott. Gleich in der zweiten Strophe kommt eine Anspielung auf den Predigttext vor: „Die Bäume stehen voller Laub,/ das Erdreich decket seinen Staub/ mit einem grünen Kleide;/ Narzissus und die Tulipan,/ die ziehen sich viel schöner an/ als Salomonis Seide.“ Zwar sind die jesuanischen Lilien durch Tulpen und Narzissen ersetzt, aber die Aussagen gleichen sich: Die Blüten erstrahlen in Schönheit, obwohl sie für ihre Einkleidung gar nicht teuer in Boutiquen geshoppt haben.
Das zweite Beispiel ist der Komponist und Organist Olivier Messiaen (1908-1992). Was ihn bestimmte, war zweierlei: Er war tief gläubig. Und er liebte Vögel. Darum hört man in den meisten seiner Stücke Vogelstimmen. Darum stand auf seiner Visitenkarte: Olivier Messiaen – Vogelkundler und Komponist. „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“
II.
Es lohnt sich, den Kopf zu heben und zu senken und gelegentlich nach hinten, nach links oder rechts oder in die Ferne zu blicken. Am Wegrand sind Blüten zu entdecken, und wenn es nur wunderbar kleine Gänseblümchen sind. Versteckt im Gebüsch des Laubes sind singende Vögel zu entdecken, die sich meist scheu von den Menschen fernhalten.
Jesu Blick reicht über Amseln, Adler und Spatzen, über Lilie, Tulpen und Narzissen hinaus. Sein Blick kehrt um zu den vielen Menschen, zuerst zu denen, die vor ihm stehen. Sie sind dadurch bestimmt, daß sie sich Sorgen machen. Jesu Lehre vom Rundblick in die Natur verwandelt ihre Sorgen in Weisheit und Lebenshilfe.
Und das hängt damit zusammen, daß er einen weiteren Blick kritisiert, nämlich den Blick auf sich selbst. Die Lilien und die Vögel kümmern sich nicht um Nahrung und Vorratshaltung, um Fashion und Outfits. Und doch kommen sie nie nackt daher und haben jeden Tag Futter zu essen. Macht euch keine Sorgen, sagt Jesus. Denn wer sich zu viel sorgt, der verschwendet seine Zeit. Planung kann das richtige Leben nicht ersetzen. Sorgen, wenn sie Alltag und Denken überschwemmen, töten das Leben. Sorgen, wenn sie sich allzu sehr verdichten, führen in nutzlose Grübeleien und am Ende in dauerhafte Melancholie oder sogar Depression.
Wer richtig und gut leben will, darf seinen täglichen Blick nicht nur auf sich selbst richten. Lilien und Vögel, wenn man es richtig ernst nimmt, haben keinen Verstand, sie handeln, wenn man das überhaupt so nennen kann, nach Instinkten und Naturgesetzen, innerhalb derer sie gefangen sind. Insofern lassen sich Menschen mit und ohne Handys auf der einen und Lilien und Vögel auf der anderen Seite nicht miteinander vergleichen. Jesus will auch nicht sagen: Ihr lieben Menschen, schaltet Verstand und Kalkül aus. Plant nicht mehr. Jesus will aus den Menschen keine Clochards machen. Zur biblischen Weisheit gehört es, nicht in Extremen und vor allem nicht in extremen Gegensätzen zu denken. Vogelbeobachtung und Blumenbewunderung führen nicht zu der Erkenntnis, daß die Menschen wie Vögel oder Blumen leben müssen. Die Unterschiede bleiben bestehen.
Aber Jesus macht – eigentlich sehr vorsichtig – darauf aufmerksam, daß die Sorgen gelegentlich überhand nehmen können. Sorgen prasseln auf einen Menschen ein, aber sie lassen sich auch steuern. Es kommt darauf, was einzelne Menschen zulassen und was sie aussperren. Gelegentlich ist es darum nötig, den Strom der Sorgen bewußt ein wenig zu drosseln, weil das Ich in seiner Lebenswelt sonst von Ängsten und Befürchtungen überflutet wird. Beides blockiert letztendlich das Leben. Im Grunde schiebt sich das Unwichtige vor das Wichtige. Ich habe vom Drosseln der Sorgen gesprochen. Ich weiß, daß es Fälle gibt, wo Menschen das nicht schaffen, weil sie aus unterschiedlichen Gründen schon geschwächt sind, weil sie krank sind, weil sie bei Zwischenfällen viel Kraft verloren haben. Wer sich krank fühlt, muß Hilfe suchen. Alle anderen aber sind eingeladen, sich Jesu Predigt zu Herzen zu nehmen.
III.
Es geht um einen neuen Blick. Wer nur in den Himmel blickt wie Hanns Guck-in-die-Luft, der verliert sich in der Zukunft und vergißt die Gegenwart. Wer nur auf den Bildschirm seines Smartphones starrt, der vergißt, was unmittelbar vor ihm liegt. Wer nur auf sich selbst schaut, der erstickt in Sorgen, die er sich möglicherweise gar nicht machen muß.
Die weisheitliche Predigt Jesu empfiehlt den Blick in unterschiedliche Richtungen: in den Himmel, auf die Blumen, auf die Tiere, auf die Mitmenschen, auf die Schöpfung, auf die Gegenwart. Und dazu gehört auch der gelegentliche Blick auf sich selbst. Jesus empfiehlt, die Welt und sich selbst im Auge zu behalten – nicht im Sinne des Mißtrauens und des Verdachts, sondern im Geist von Vertrauen und sorgenfreiem Selbstbewußtsein.
Letzteres kann geschehen, weil im Blick auf die Welt auch der Blick dessen enthalten ist, der die Welt erschaffen hat. Wer aufmerksam und vertrauensvoll auf sich und die Welt blickt, der weiß im Glauben auch, daß Gott zurückblickt, nein: daß er längst vorausgeblickt hat. Er weiß, welche Sorgen sich die Menschen machen. Gott kümmert sich um die Menschen, auch wenn das gelegentlich ganz anders erscheint. Alles andere wäre Kleinglaube. Der große Glaube an Gott läßt sich in aller Gelassenheit von kleinen Mißgeschicken nicht beirren. Unbeirrbar zielt das Vertrauen auf diesen einen Satz Jesu: „Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“ Dieses Wort Jesu saugt alle Sorgen auf.
An die Stelle die Sorgen tritt das, was man in modernem Deutsch ein neues „framing“ nennt. Framing heißt einen Rahmen setzen. Wo die Sorgen auf einen Menschen eindringen, herrschen Angst und Befürchtungen. Menschen, Gespräche, Begegnungen, Harmloses – alles wird in die Frage danach umgeprägt: Wie kann mir das schaden? Muß ich mir Sorgen machen? Wer den Rahmen neu setzt, verändert Horizont, Perspektiven und Hintergrund. Der Fokus der Aufmerksamkeit bewegt sich weg von den ablenkenden Kleinigkeiten und richtet sich auf das große Ganze. Jesus spricht von Gottes Reich. Man könnte auch einfach sagen: Gott liebt diese Welt. Er kümmert sich um Lilien und Löwenzahn, um Spatzen und Amseln und eben auch um die Menschen, um Glaubende wie Nicht-Glaubende.
Es dauert, bis dieses Reich Wirklichkeit wird. Deswegen braucht der Glaube neben Begeisterung und Kraft auch ein gehöriges Maß an Geduld und Gelassenheit. Gott liebt diese Welt. Das ist der Horizont, auf den sich das Denken und Handeln der Menschen hin bewegt. Und dieser Rahmen des Gottesreiches ändert das Leben. Sorgen verwandeln sich aus gefährlichen Monstern und bedrohlichen Gespenstern in alltägliche Kleinigkeiten. Jesus verkündet kein sorgenfreies Leben und kein Schlaraffenland.
Jeder Tag, so der Prediger aus Nazareth, besitzt seine eigene Plage. Aber wenn große Sorgen in die kleinen Stücke des Alltäglichen geschnitten werden, dann brechen sie herunter zu Aufgaben, die ein jeder bewältigen kann. Das gilt nicht für jede Sorge und Befürchtung, aber eben für viele. Weisheit, von der Jesus redet, verwandelt Leben nicht in lauter Süßigkeit. Aber sie stellt einen Rahmen des Glaubens bereit, der das Leben mit Vertrauen, Hoffnung und Liebe anreichert. Wir lernen das von jeder Lilie am Wegrand, von jeder Tulpe im Beet und jeder Narzisse im Garten. Wir lernen das von jedem Spatz und jeder Taube, die sich für uns unsichtbar während dieser Predigt auf der Regenrinne des Kirchendachs niedergelassen hat.
Gottes Liebe und Friede, die am Ende auch menschliche Weisheit und Klugheit in sich aufheben, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.