Feiertag in Gefahr
“Ich beneide Sie nicht um Ihre Religion, aber ich beneide Sie um Ihren Sabbat.“ So empfing ein Regisseur den jüdischen Schriftsteller Herman Wouk, als dieser am Samstagabend endlich wieder zur hektischen Theaterprobe am Broadway zurückkehrte und mit leuchtenden Augen von seiner häuslichen Sabbatfeier erzählte: „Wir setzen uns zu einem Mahl an den mit Blumen und alten Sabbatsymbolen geschmückten Tisch: die brennenden Kerzen, die geflochtenen Weißbrote, der gefüllte Fisch, meines Großvaters Silberpokal, in dem der Wein funkelt. Ich spreche über meinen Söhnen den uralten Segen, und wir singen die in heiteren Synkopen gehaltenen Tischlieder zum Sabbat. Wir sprechen vom Judentum und aus dem Munde der Kinder kommen die üblichen verzwickten Fragen nach Gott, die meine Frau und ich unbeholfen genug, aber so gut es geht, beantworten. Ich komme mir vor, als ob ich eine Wunderkur mache. Auf ähnliche Weise verbringen wir auch den Samstag. Die Jungen kennen sich in der Synagoge aus, und es gefällt ihnen dort. Noch besser gefällt ihnen, dass sie nun ihre Eltern ganz für sich haben. Am Sabbat sind wir immer da, und das wissen sie. Sie wissen auch, dass ich dann nicht arbeite und auch meine Frau Zeit hat. Dieser Tag gehört ihnen. Dieser Tag gehört aber auch mir. Das Telefon klingelt nicht. Ich habe Zeit zum Nachdenken, zum Lesen, Lernen, Spazierengehen oder zum Nichtstun. Es ist eine Oase der Ruhe.“
Solch wundersame Befreiung von Hektik und Hast des Alltags und heilsame Erneuerung von Leben und Glauben, wie sie Herman Wouk hier begeistert bezeugt, erleben jüdische Menschen seit über zwei Jahrtausenden dankbar an jedem Sabbat. Sie hüten und wahren damit einen kostbaren Schatz, der wirklich Neid erwecken kann. Auch bei Christen, die oft so wenig auf ihren Sabbat achten, den sie seit der Auferweckung Jesu Christi als Sonntag feiern. Denn gerade dieser Feiertag stört unsere „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“ erheblich. Sie hätte am liebsten sieben Werktage. Dann könnte sie endlich alles zu jeder Zeit herstellen und verkaufen. Freilich muss unsere Dienstleistungsgesellschaft etliche Menschen auch sonntags beschäftigen, damit wir alle Wasser und Strom, Bus und Bahn, Telefon, Internet, Radio oder Fernsehen nutzen und im Notfall Feuerwehr, Polizei oder Ärzte rufen können. Ob allerdings so viel Sonntagsarbeit sein muss, wie gegenwärtig üblich, das darf bezweifelt werden. Wie viel uns mit dieser Aushöhlung des Sonntags an Lebensfreude und Gemeinschaft verloren geht, lässt Herman Wouks beneidenswerte Sabbatfeier ahnen. Es ist darum ernsthaft zu fragen: Was wird aus den Menschen und ihrer Gesellschaft, wenn es nur noch Werktage gibt? Was verlieren wir, wenn der Sonntag stirbt – als von Gott geschenkte und darum niemals zu verplanende Zeit? Wie viel Schaden nehmen dabei die Würde des Menschen und der Zusammenhalt unserer ganzen Gemeinschaft?
Um solche lebenswichtigen Fragen nach Würdigung und Wahrung des biblischen Feiertages ringt unser Predigtwort aus dem 2. Kapitel des Evangeliums nach Markus. Wir vernehmen darin die Stimme des auferweckten Jesus Christus. Er will auch unserer Gemeinde heute Morgen seine Befreiungsbotschaft vom Gottesgeschenk des Sonntags nahe bringen. Wir hören Mk 2,23-28 in der deutschen Übertragung der Basisbibel. (Lesung des Predigtwortes)
Lebensdienlicher Heilstag
Sehr verwunderlich für jüdische Menschen zu der Zeit Jesu ist es, wie scheinbar sorglos seine Jünger hier eine wichtige Sabbatregel einfach brechen. Hatten sie doch gelernt: Am Sabbat darf nicht geerntet werden. Und das war es, was sie verbotenerweise taten. „Denn nicht ein Reis, nicht einen Zweig, ja nicht einmal ein Blatt abzuschneiden oder eine Frucht zu pflücken, ist (am Sabbat) erlaubt.“ Zudem wussten sie, wie wichtig die genaue Einhaltung des Sabbats für alle Juden damals war. Ohne Sabbat keine jüdische Gemeinschaft, ohne Sabbat auch kein Glaube an Gott! Es ist darum nur allzu verständlich, wenn die Pharisäer Jesus besorgt befragen: „Sieh nur, was sie tun. Das ist am Sabbat verboten.” Ich muss offen gestehen: Für unseren bedrohten Sonntag wünsche ich mir viele so besorgte Behüter wie diese Pharisäer. Wir dürfen sie uns nicht als engstirnige Spießer oder feindselige Religionspolizisten vorstellen. Sie fragen als aufrichtige Juden, die in Gottes Gebot die gute Wegweisung zum gelingenden Leben erkennen und die Gottes Lebensweisung auch selbst ernsthaft befolgen.
Pharisäer sind im Übrigen nicht von Anfang an Jesu Feinde. Einmal ist Jesus im Hause eines Pharisäers zu Gast und lobt ihn ausdrücklich: „Simon, du bist nicht fern vom Reiche Gottes“. Andere Pharisäer warnen Jesus vor einem Mordanschlag des Herodes. Ein solches offenes Gesprächsklima herrscht auch in unserer Erzählung. So brechen die Pharisäer nach dem Sabbatvergehen der Jünger die Beziehung zu Jesus nicht einfach ab. Sie sprechen ihn vielmehr in dieser zentralen jüdischen Glaubens- und Lebensfrage als gleichwertigen Lehrer an. Jesus antwortet ihnen mit einem klassischen Streitgespräch. Denn er nimmt den pharisäischen Vorwurf ernst und entkräftet ihn wie ein typischer Schriftgelehrter nachdenklich und liebevoll mit drei Argumenten:
Mit seinem ersten Argument verweist Jesus auf das Verhalten des berühmten Königs David: Als dieser und seine Männer in Not sind und Hunger haben, essen sie ohne Bedenken von den Schaubroten auf dem Tempelaltar, die nach Gottes Gebot nur die Priester verzehren dürfen. Damit gibt David ein biblisches Beispiel dafür, dass man zum Erhalt des Lebens sogar ein Gottesgebot brechen darf. Denn Gottes Gebot als Wegweisung zum Leben will menschliches Dasein erhalten und nicht vernichten. Darum dürfen auch die Jünger, die ohne Obdach und Nahrung mit Jesus umherziehen und Gottes Nähe verkündigen, sogar am Sabbat Ähren am Wege ausreißen und essen: sie sollen am Leben bleiben. Das ist die Logik der ersten Begründung.
Seinen zweiten Grund entnimmt Jesus der biblischen Schöpfungsge-
schichte: „Gott hat den Sabbat für den Menschen gemacht und nicht den Menschen für den Sabbat.“ Befreiend und menschenfreundlich soll der Sabbat nach Gottes Willen sein: Denn an diesem Tag ohne Arbeit kommt endlich wieder ans Licht, was jeder Mensch – ob Mann oder Frau, Knecht, Magd oder Fremdling – von Haus aus und in Wahrheit ist: nicht rechtloser Sklave, sondern freies Königskind, nämlich ein Ebenbild Gottes, des Königs der ganzen Welt. Als dieses freie Königskind darf und soll darum jeder und jede teilhaben an der königlichen Ruhe, die Gott am siebenten Schöpfungstag für sich selbst und alle seine Königskinder geschaffen hat. Denn sechs lange Arbeitstage schuften sie alle wie Sklaven im Schweiße ihres Angesichtes und sind darum von ihrer wahren Bestimmung meilenweit entfernt. Erst Gottes siebenter Tag, der für jede Arbeit absolut tabu ist und darum nie in menschliche Zeitplanung einbezogen werden darf, erst dieser heilige Sabbat- und Tabu-Tag befreit Menschen aus ihrer alltäglichen Sklaverei und gibt ihnen ihre königliche Menschenwürde wieder zurück. Niemals darf darum dieser königliche Mensch ein Mittel zum Zweck werden, und sei es der höchste und heiligste Zweck. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen!“, haben die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes 1948 in Aufnahme dieses Jesuswortes notiert und schließlich daraus unser unumstößliches und von keiner Mehrheit abschaffbares Grundrecht formuliert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Den Gesichtspunkt des heilsam befreienden Sabbats unterstreicht Jesus noch einmal mit seinem dritten Gegengrund: „Also kann der Menschensohn auch bestimmen, was am Sabbat erlaubt ist.” So übersetzt die Basisbibel ausdeutend, aber zutreffend diesen Vers, der genau übertragen lautet: „Also ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“ Dieser Satz besagt: Der auferweckte Jesus Christus vertritt Gott auf der Erde und darf darum auch den Sabbat glaubwürdig und überzeugend auslegen, nämlich als gute Schöpfungsgabe und leuchtendes Vorzeichen der nahen Herrschaft Gottes. Diese heilende Nähe Gottes, die an jedem Sabbat besonders klar aufscheint, bringt Jesus zu den Menschen. Er befreit sie von ihrer Schuld und nimmt sie wieder in die Gemeinschaft der Gotteskinder auf. Er löst die Fesseln ihrer Knechtschaft und heilt ihre jahrelange Zerrissenheit an Körper, Geist und Seele. Er versöhnt ihr Leben wieder zu einer neuen Einheit.
Mit allen drei Gründen betont Jesus in seinem Streitgespräch mit den Pharisäern: Der Sabbat ist niemals willkürlich zu brechen oder gar abzuschaffen, wie einige das missverstanden haben. Vielmehr will Jesus den wahren, lebensdienlichen Sinn des Sabbats enthüllen: Vielfach gestörtes Leben soll erhalten und wieder geheilt werden. Diesen Lebens- und Heilscharakter des Sabbats legt Jesus offen, indem er nicht nur das Ährenausreißen seiner Jünger am Sabbat als lebensnotwendig verteidigt, sondern gerade an diesem Heilstag Gottes immer wieder schon seit Langem erkrankte Menschen von ihren quälenden Leiden befreit.
Unser Leben – ein Fest, das bleibt
Mit der Gemeinde des Markus hören wir, wie Jesus Christus mit diesem Predigtwort auch unseren Sonntag im Jahre 2013 überzeugend auslegt und uns verkündigt: „Es ist gut, es ist sehr gut, dass ihr hier im Gottesdienst beieinander seid und den Sonntag gemeinsam begrüßt und besingt als Gottestag des Lichtes und des Heils, als Christustag des neuen Lebens, als euren Tag des Trostes und der Seligkeit.
Es ist heilsam, dass ihr nun in eure Familien und Häuser tragt, was euch der Gottesdienst schenkt: versöhnte Gemeinschaft, gestärkten Glauben, erneuerte Liebe, erfahrene Heilung von innerer und äußerer Zerrissenheit und frohe Befreiung zum aufrechten Gang und zum Gebrauch eurer eigenen Hände und Füße. Es ist lebensdienlich, wenn ihr von euren jüdischen Glaubensgeschwistern erneut lernt, den Feiertag von eurer Alltagsarbeit zu befreien und zum Miteinander zu nutzen.
Es ist menschenwürdig, wenn ihr den Sonntag als Befreiungstag feiert, mit dem Gott eurer unbefragtes Lebensrecht sichert und eure unverlierbare Menschenwürde wahrt.
Der Philosoph Robert Spaemann kann euch zeigen, wie überlebenswichtig eure Sonntagsfeier auch für die ganze Gesellschaft ist. Denn der biblische Sonntag steht für den heiligen, unbefragt gültigen Kern eurer Gesellschaft, der alles schützt, was niemals berechnet werden darf. Sobald ihr fragt: „Was kostet uns eigentlich der Sonntag?“ habt ihr ihn schon zerstört und Tür und Tor für weitere unmenschliche Fragen geöffnet: „Was kostet es uns eigentlich, keine Sklaverei mehr zu haben?“ „Was kostet es uns, keine Menschenversuche zu machen?“ Was kostet es uns, „alte Menschen und geistig Behinderte am Leben zu lassen“?
So hütet ihr mit eurem Sonntag zugleich den Zusammenhalt euer gesamten Gemeinschaft und erhaltet obendrein schon in eurem irdischen Leben auf wunderbare Weise Anteil an Gottes neuer Schöpfung und an Gottes ewiger Zeit, wie dies der Heidelberger Katechismus bezeugt, der zum vierten Gebot ausführt: „Dass ich alle Tage meines Lebens von meinen bösen Werken ablasse, den Herrn durch seinen Geist wirken lasse und so den ewigen Sabbat in diesem Leben anfange.“
Dies ist auch eine gute Antwort auf eure oft gestellte bange Frage: „Was bleibt eigentlich von uns und unserer Zeit, wenn wir einmal nicht mehr sind?“ – Es bleibt euer Anteil an Gottes ewiger Ruhe. Es bleibt euer sonntägliches Loben und Staunen über die geschenkte Zeit. Es bleibt eure Gewissheit: Unser Leben ist ein Fest – an Gottes schönem Sonntag!“