Werbung im Fernsehen für eine Lotterie. Gezeigt wird zunächst der Rosenkrieg eines zerstrittenen Ehepaares: er zerschneidet ihr teures Abendkleid in lauter kleine Fetzen. Sie versenkt seine teure Fotokamera im Goldfisch-Aquarium; er zertrümmert daraufhin ihr wertvolles Porzellan. Schließlich läuft sie weg. Hässliche Szenen auf der Mattscheibe. Aber Werbung wäre nicht Werbung, wenn sie nicht in einem Happy-End münden würde. Der Lotteriegewinn macht’s möglich, dass der materielle Schaden wiedergutgemacht wird und sich das zerstrittene Paar mit verweinten Augen am Ende wieder in den Armen liegt. Geld, so suggeriert der Fernsehspot, Geld kann gegenseitige Verletzungen wieder heilen. Geld kann nicht nur den materiellen, sondern sogar den zwischenmenschlichen Schaden beheben und damit den Frieden und die gestörte Beziehung zwischen den beiden Streithähnen wiederherstellen.
Eine naiv anmutende, allzu einfache und – wie ich finde – ziemlich unrealistische und lebensferne Vorstellung. Der Streit um Sachen und Geld kann zwar enormen Schaden anrichten, aber dass Geld als materiell Ersatzleistung persönliche Verletzungen auslöschen und ungeschehen machen kann, das ist doch sehr zweifelhaft. Versöhnung kann man nicht erkaufen; Reparationen können hässliche Vorgänge in der Vergangenheit nicht rückgängig machen; zu tief haben sie sich in das emotionale Gedächtnis der Beteiligten eingebrannt. Geldzahlungen zur Wiedergutmachung sind allenfalls ein Zeichen des guten Willens, ein symbolischer Akt. Das streitende Ehepaar im Werbefilm, das sind zwei Menschen, die sich einst sehr nahe waren; es sind Liebende, die im Streitfall trotzdem mit ungeheurer negativer Energie aufeinander losgehen. Es ist ein exemplarisches Beispiel für Konflikte im engsten Nahbereich, wie sie leider häufig im Zusammenleben vorkommen. Das Themenfeld Konflikte und ihre Bewältigung, Schuld und Versöhnung hat zeit- und ortlose Aktualität. Es „menschelt“, wo immer Menschen zusammenleben.
Vielfältige Erfahrungen von Streit und Unversöhntheit kennzeichnen unsere Welt: da sind persönliche Konflikte, die einst eng vertraute Menschen zu erbitterten Gegnern und Feinden macht; da sind Konflikte innerhalb einer Familie, auch zwischen Geschwistern, die alle Beteiligten auf die Dauer langsam aber sicher zermürben; da sind auch große gesellschaftliche Probleme, die so viel Konfliktpotential in sich tragen, dass sich an ihnen Gruppen und Lager im ständigen Kampf gegeneinander förmlich aufreiben. Schließlich sind auch die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts von einer Reihe von weltpolitischen Konflikten überschattet, die uns vor Augen führen, wie brüchig und zerbrechlich der Frieden in der Welt und wie schwer Versöhnung ist – auch zwischen Nachbar- und vermeintlichen „Brüdervölkern“, wie aktuell gerade zwischen Russland und der Ukraine. Konflikte und ihre Bewältigung – da tun sich Abgründe von persönlicher oder überpersönlicher Schuld auf im zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen, politischen oder staatlichen Bereich.
Somit greift unser heutiger Predigttext ein hochaktuelles Thema auf: die Frage von Schuld und Vergebung und das Wunder der Versöhnung. Es geht konkret um eine innerfamiliären Konflikt, einen Geschwisterkampf, einen Bruderzwist, also um Leid, das Brüder ihrem eigenen Bruder angetan haben, an dem sie schuldig geworden sind. Es geht um Enttäuschung und dem Umgang mit einem zerbrochenen Vertrauensverhältnis. Die biblische Josephsgeschichte, deren Schlusspassage uns heute als Predigttext aufgegeben ist, führt uns modellhaft vor Augen, wie die Bewältigung eines Familienkonflikts gelingen kann. Möglich ist die Heilung des Bruchs im zwischenmenschlichen Bereich aber nur durch die Vergebungsbitte seiner Brüder auf der einen und durch Josephs Vergebungsbereitschaft auf der anderen Seite; durch die Reue und Umkehrbereitschaft der neidischen Geschwister und die Großmütigkeit des geschädigten Bruders, seinen wahren „Edelmut“, wie es in der etwas pathetischen Überschrift des Abschnitts in der Lutherbibel heißt. Dazu gibt Gott am Ende seine Gnade. Alles läuft in der Josephsgeschichte auf den Satz zu: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ (Gen 50,20)
Es war ein Kampf um Leben und Tod, zu dem sich die anfängliche Rivalität zwischen Joseph und seinen Brüdern, den 12 Söhnen Jakobs, ausgewachsen hat. Geendet hat er damit, dass die 11 Brüder Joseph, den arroganten Träumer, das Lieblingskind des Vaters, in einer Zisterne aussetzten. Nur dem glücklichen Umstand, dass eine vorbeiziehende Händlerkarawane den Joseph seinen Brüdern quasi als Sklaven abkaufte, verdankt das verwöhnte und verzärtelte Träumerkind sein Leben. In Ägypten, wohin ihn die Karawane verschleppt, erwartet Joseph, vorher „Papas Liebling“, dann ein wechselvolles Schicksal: wieder entkommt er nur mit knapper Not dem sicheren Tod im Gefängnis. Die Tatsache, dass Joseph die Träume des Pharaos von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen richtig deutet, verhilft ihm schließlich zur Freiheit und zum Aufstieg in die staatstragende Position eines Bevollmächtigten des Pharao. Und genau in diese Situation hinein fällt das Wiedersehen mit seinen Brüdern, die ihm einst so übel mitgespielt hatten. Eine Hungersnot hatte die Jakobssippe dazu gezwungen, nach Ägypten zu ziehen, um dort Getreide zu kaufen. Sie ahnen zunächst nicht, wer der königliche Statthalter ist, mit dem sie da verhandeln.
Erst nach etlichen Prüfungen gibt sich Joseph ihnen schließlich als ihr eigener Bruder zu erkennen. Die Familie scheint wieder vereint, doch nach dem Tod Jakobs, des Vaters der Sippe, bricht der alte Konflikt von neuem hervor. Droht nun ein neuerliches Familiendrama? Genau hier, an dieser Stelle, setzt unser Predigttext ein. Die Brüder haben große Angst vor der Vergeltung des Joseph, also davor, dass die unbewältigte Vergangenheit sie schließlich doch noch einholt nach so vielen Jahren, weil der alte Vater gestorben ist und nicht mehr seine schützende Hand über sie halten kann. Wird Joseph jetzt doch Rache üben für das Leid, das sie ihm angetan haben? Wird er sie nun grausam bestrafen, mit ihnen abrechnen, Gleiches mit Gleichem vergelten? Die Brüder wissen, dass sie nicht mehr vor ihrem Bruder weglaufen können. Ihre Angst ist so groß, dass sie sich zunächst nicht getrauen, persönlich vor Joseph zu treten, so wie wir uns vor unangenehmen Terminen gerne mal drücken oder vertreten lassen. Sie schicken stattdessen Boten in einer Art „diplomatische Mission“ zu ihrem Bruder und lassen ihm nicht ihre eigenen, sondern die Worte des toten Vaters übermitteln. Trickreich versuchen sie also, sich hinter Vater Jakobs Worten zu verstecken; sie leihen sich quasi seine väterliche Autorität. – Wieder arbeiten sie mit allen Tricks! Aber immerhin haben sie jetzt endlich den Mut, ihre Schuld zu bekennen und den Bruder über ihre Mittelsmänner um Vergebung zu bitten. Und was tut Joseph in dieser Situation? Was würden wir an seiner Stelle tun und wie reagiert er auf dieses Schuldbekenntnis?
Überraschenderweise sinnt Joseph nicht auf Heimzahlung des begangenen Unrechts; er trachtet nicht nach Vergeltung. Stattdessen redet er beruhigend auf seine verängstigten Brüder ein und sagt zu ihnen wie der Weihnachtsengel: „Fürchtet euch nicht!“ Ja mehr noch: Er verspricht seinen reuigen Brüdern sogar seine Unterstützung und sagt ihnen zu, sie in der Not zu versorgen. So gibt Joseph der schlimmen Sache aus der Jugend nicht nachträglich noch einmal eine zweite Chance, Zwietracht zwischen ihm und seinen Brüdern zu säen und dadurch noch ärgere Verwüstung unter den Geschwistern anzurichten. Joseph gibt seinem Herzen einen Stoß. Aber wer weiß? Vielleicht war es Joseph zunächst gar nicht danach, den Edelmütigen, weitherzigen Wohltäter und Friedensstifter zu spielen? Die Tat seiner Brüder hätte ihn schließlich das Leben kosten können! Sie haben ihn verraten und verkauft. Schlimmer noch, seinem greisen Vater hatten sie ein blutverschmiertes, in Schafsblut getränktes Hemd übergeben und ihm damit eine glatte Lüge aufgetischt von einem wilden Tier, das Joseph angeblich getötet hatte.
Fürwahr, Joseph hätte allen Grund gehabt, seinen Brüdern Auge um Auge und Zahn um Zahn zurückzuzahlen, was sie ihm angetan haben! Aber das tut er nicht. Zwar verniedlicht er ihre Schuld nicht, sondern sagt ihnen geradeheraus auf den Kopf zu: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen.“ Das war so, das kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber trotz allem ringt Joseph sich am Ende zur Vergebung durch, weil er in dem Geschehenen Gottes gnädige Führung zum Guten sieht – für seine Brüder und für sich selbst – und damit ein höheres Ziel, das seinen persönlichen Zorn übersteigt. Woher nimmt dieser Mensch seine Motivation, vergeben zu können? Woher bekommt er die Kraft zur Vergebung? Erst im zweiten Teil seiner Aussage erfahren wir es. Nach der Feststellung: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen“ kommt der entscheidende Satz: „aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Joseph erkennt Gottes versöhnendes Handeln, das alle menschliche Schuldgeschichte tilgt; das wieder gut machen kann, was verworren und verwirkt erschien. Gott hat die Kraft, im Bösem Gutes zu wirken, anders gesagt: sogar aus dem Bösen Gutes hervorzubringen. Gott kann Menschen zum Guten wenden. Keiner ist am Ende dieser langen Geschichte wie er am Anfang war – die Brüder nicht und auch Joseph nicht. Alle machen einen Lern- und Entwicklungsprozess durch, der sie zu anderen Menschen macht. Und das ist göttliche Gnade, lebensverändernd und schicksalswendend.
Was hier in der Josephsgeschichte in fast romanhafter Form erzählt wird, ist ein Beispiel für die Überwindung von Bösem durch Gutes. Freilich – auch Joseph ist ein Mensch mit Ecken und Kanten, mit Stärken und Schwächen. Er ist genauso wenig wie seine Brüder ein blütenweißer Glaubensheld und noch weniger ein moralischer Supermann; auch er muss eine Lerngeschichte durchlaufen. Sein anfänglicher Hochmut, seine überheblichen Träume, in denen sich seine Brüder wie die Sterne vorm Mond vor ihm verneigen mussten, hatten zunächst ganz tief unten, auf dem Boden der Tatsachen, genauer gesagt auf dem Boden einer Zisterne, geendet. In Ägypten hatte er ein Immigrantenschicksal erlitten, ohne Rückhalt, ohne Familie, in einer fremden Kultur, deren Fallstricke er z.B. zu spüren bekam, als er unschuldig der Verführung der Frau des Potifars, seines Chefs, verdächtigt wurde. Trotzdem hat Joseph es geschafft, sich in der fremden Umgebung hochzuarbeiten bis zum Verwalter des Pharao. Er ist ein „Selfmade-Mann“, aber er beutet diese Position nicht aus, um sich selbst zu bereichern. Er ist vielmehr ein kluger und vorausschauender Haushalter, der in den fetten Jahren Rücklagen erwirtschaftet, so dass in den sieben mageren Jahren kein Mangel entsteht, sondern er von seinen Überschüssen sogar noch etwas abgeben kann. Das nennt man vorausschauende Finanzplanung! Und aus dieser klug erarbeiteten Machtposition heraus begegnet Joseph dann wieder seinen Brüdern. Was für eine Dramatik! Das natürlichste wäre, dass nun seine alten Rachegefühle wieder hochkommen. Aber Joseph lässt sich nicht zur Vergeltung hinreißen, sondern sieht vielmehr auch seinen eigenen Anteil an den Gründen des Konflikts in der Familie.
Thomas Mann hat in seiner Josephs-Trilogie die möglichen Gedanken des Joseph, seine Selbstreflexion eindrücklich in folgende Worte gefasst: „Aber Brüder, ihr alten Brüder!“ antwortete er und beugte sich zu ihnen mit gebreiteten Armen. „Was sagt ihr da auf! Als ob ihr euch fürchtetet, ganz so redet ihr und wollt, dass ich euch vergebe! Bin ich denn wie Gott? … Unter seinem Schutz mußt‘ ich euch zum Bösen reizen in schreiende Unreife, und Gott hat’s freilich zum Guten gefügt, dass ich viel Volks ernährte und so noch etwas zur Reife kam. Aber wenn es um Verzeihung geht unter uns Menschen, so bin ich’s, der euch darum bitten muß, denn ihr mußtet die Böse spielen, damit es alles so käme. Und nun soll ich Pharaos‘ Macht, nur weil sie mein ist, brauchen, um mich zu rächen an euch für drei Tage Brunnenzucht, und wieder böse machen, was Gott gut gemacht? Das ich nicht lache!“ (T. Mann, Joseph, S. 540f.)
Joseph – ein Vorbild für die Bereitschaft zur Vergebung. Er sieht nicht nur den Balken in den Augen seiner Brüder, sondern er bekennt sich auch zu seinen eigenen Fehlern damals, als er jung war: zu seiner Unreife, seiner jugendlichen Arroganz und Überheblichkeit. Er sieht auch seinen eigenen Anteil an dem alten Konflikt. Liebe Brüder und Schwestern, wie hätten wir gehandelt an Josephs Stelle? Wo sind wir schon einmal Opfer des Neids und der Missgunst anderer geworden und wie können wir mit Menschen umgehen, die an uns schuldig geworden sind? Umgekehrt müssen wir uns auch fragen, wo wir die Täter waren und uns eher auf der Seite der Brüder wiederfinden, die Unrecht getan und Böses gewollt haben? Wie würden wir uns verhalten, wenn wir nach Jahren an der Stelle seiner Brüder stehen würden, in neuer Konstellation, nicht als die Stärkeren, sondern als reumütige Bittsteller? Das Problem von Schuld und Vergebung, die Problematik von Konflikten, gestörten Beziehungen und ihrer Bewältigung – das geht jeden Menschen an. Es geht auch uns etwas an. Was wir aus der Josephsgeschichte mitnehmen und lernen können, ist der Verweis auf Gott als die entscheidende Instanz, vor der wir Rechenschaft schuldig sind über unser Tun und Lassen und vor dem sich der Raum für Vergebung eröffnet, so dass aneinander schuldig gewordene Menschen in versöhnter Weise miteinander weiterleben können. Gott kann Böses zum Gutem wenden. Er kann heilen, was zerbrochen war.
Was Joseph hier als seine Erfahrung anspricht, Versöhnung, das ist auch der innere Kern des christlichen Glaubens, so wie es in 2. Korinther 5,19 formuliert ist: „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnetet ihnen ihr Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ Weil Gott uns vergeben hat, darum sollen wir einander vergeben. Vergangenes kann man zwar nicht mehr ungeschehen machen, aber man kann einen neuen Anfang setzen, so wie Joseph und seine Brüder. Sie nehmen die Möglichkeit der Versöhnung an, die Gott ihnen gewährt. So wird Joseph zum Vorbild für uns als ein Mensch, der statt Rache zu nehmen verzeihen kann; und die Brüder, weil sie Fehler eingestehen und ihr Verhalten nicht beschönigen nach dem Motto „War doch halb so schlimm damals!“ Nur durch Ehrlichkeit ist Versöhnung möglich, im offenen Umgang miteinander, wo nichts verdrängt wird und die feste Hoffnung da ist, dass Gott auch aus abgrundtief Bösem noch etwas Gutes entstehen lassen kann. Dietrich Bonhoeffer hat das in seinem Buch „Widerstand und Ergebung“ so formuliert: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. … Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“ (D. Bonhoeffer, S. 19).