Sind Frauen tatsächlich die besseren Diplomaten? - Diese Behauptung[1] trifft mit Sicherheit auf die biblische Geschichte zu, die uns heute der Predigttext ist: Das Schicksal und die Geschicklichkeit der Prostituierten Rahab in Jericho. Kunstvoll erzählt im 2. Kapitel des Josuabuches.
(Lesung des Predigttextes, Josua 2,1-21)
I.
Das ist ja fast ein Krimi – gespickt mit Spionage, Verrat und Prostitution. Kunstvoll erzählt, ist diese Geschichte ein Teil der Legenden rund um die Landnahme des Volkes Israel nach ihrer Wüstenwanderung und ihrer Heimkehr aus Ägypten.
Dass die Israeliten bei ihrer Landnahme die Stadt Jericho belagert haben, und so lange mit ihren Kriegshörnern um die Stadt gezogen sind – ganze sieben Mal! – bis die Stadtmauer durch den Lärm der Posaunen einstürzte, ist Ihnen vielleicht noch bekannt. Möglicherweise aber nicht, dass die Israeliten diese Einnahme Jerichos gründlich vorbereitet hatten – nämlich mit der Entsendung von Spionen, die die Stadt erst einmal auskundschaften sollten.
Nach unserer Erzählung waren es zwei Männer: Josuas Spione. Ohne Umweg scheinen die beiden in das Haus einer Hure gegangen zu sein. Dort schliefen sie eine Nacht. Eher mit als neben Rahab. Denn ein Bordell ist kein Hotel, auch nicht für feindliche Soldaten.
Rahab selbst ist eine Außenseiterin in Jericho. Und sie wohnt auch so: An der Außenseite der Stadt, direkt an der Mauer. Vielleicht ist ihr Haus sogar Teil der Stadtmauer. Insofern – und das wissen auch Josuas Spione! – ist sie die Stelle, an der Jericho verwundbar ist. Denn sie wissen: Kaum eine Gesellschaft geht freundlich mit Sexarbeiterinnen um. Das rote Seil, das Rahab am Ende der Geschichte zum Fenster hinaushängt, erinnert nicht nur zufällig an das rote Licht heutiger Bordelle.
Die Erzählung lässt uns dann das Bild einer klugen und weitsichtigen Frau sehen. Es scheint so, dass sie sich verantwortlich weiß für eine große Familie. Sie wäre nicht die erste Frau, die als Prostituierte arbeitet, um das Überleben ihrer Sippe zu sichern. Und ganz sicher nicht die letzte. Es gibt sie heute noch zu tausenden: Frauen, die ihren Körper verkaufen, um das Überleben ihrer Familie zu sichern.
Prostitution ist von jeher ein Reizthema in der Gesellschaft. Man redet zwar gern vom ältesten Gewerbe der Welt. Also von einer Sache, die es immer gab und gibt. Und doch gelten Prostituierte als Personen, über die man die Nase rümpft. Genau wie über Männer, die Bordelle besuchen. Beides gehört sich einfach nicht. Merkwürdig: Für die meisten Menschen auf der Welt ist es aber völlig in Ordnung, dass Männer in den Krieg ziehen. Und im Krieg für ihr Land tapfer Männer, Frauen und Kinder töten.
Wer sich hier die Mühe macht, sich in die Rolle der Rahab hinein zu denken, wird an der Widersprüchlichkeit solcher Moral nicht vorbeikommen. Es soll eine Sünde sein, für ein paar Stunden der Lust der Männer zu dienen? Und es soll keine Sünde sein, dieselben Körper im Krieg zu verletzen, zu quälen, zu töten? Tausendfach Tod und Leid über ein Volk zu bringen? Vielleicht gar noch im Namen der Gerechtigkeit oder eines Gottes?
Diese Heuchelei habe ich schon lange satt, wird Rahab gedacht haben. Schließlich geht es für Rahab ums nackte Überleben. Schon immer, aber jetzt besonders. Sie hat gelernt, nach unten zu treten, um selbst nicht untergehen zu müssen. Das tut sie auch jetzt, auch wenn sie zur Verräterin an der Stadt wird, in der sie lebt. Aber dabei bleibt sie Frau. Warmherzig, besorgt und clever. Sie sorgt nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Familie und die beiden Spione.
Geistesgegenwärtig und abgebrüht schickt sie die Soldaten, die nach den Spionen suchen, auf eine falsche Fährte. Und sie wittert den Handel ihres Lebens. Es geht ja um die Rettung ihrer ganzen Familie aus Lebensgefahr. So schätzt Rahab die Lage klug und nüchtern ein. Sie sieht die Angst vor den Israeliten, die schon seit langem in der Stadt umgeht und sie lähmt, und sie bekennt vor den beiden Spionen: „Ich weiß, dass der HERR euch das Land gegeben hat und dass uns der Schrecken vor euch befallen hat und alle Bewohner des Landes vor euch zittern.“
Und dann zählt sie all das Unglaubliche auf, das man sich in Jericho zuflüstert, vom Durchzug durchs Schilfmeer angefangen bis zur Vernichtung der Amoriter. Vernichtung macht keine Gefangene. Zumindest das für sie der schreckliche Beweis dafür, dass der Gott Israels derjenige ist, der herrscht: Oben im Himmel, unten auf der Erde. Mag dieser Gott mit Jericho doch machen, was er will. Rahab aber hat sich für das Leben entschieden. Nicht nur ihr Überleben, sondern auch das Überleben ihrer ganzen Familie.
Sie schließt mit den beiden Spionen einen Pakt: Rahab hilft ihnen zur Flucht. Als Gegenleistung für ihren Schutz durch Rahab versprechen die beiden Späher, Rahab vor dem israelitischen Angriff zu schonen. Dafür gibt es zwei Bedingungen. Sie und ihre Familienangehörigen müssen beim Angriff im Haus bleiben, und Rahab soll das Haus durch ein rotes Seil am Fenster kennzeichnen.
Nachdem die beiden Bedingungen akzeptiert wurden, lässt Rahab die Spione mittels des an ihrem Fenster befestigten Seil die Mauer hinabklettern. Mit dem roten Seil im Fenster wird das Haus für die israelischen Kämpfer erkenntlich. In diesem Haus darf niemand getötet werden. Es wird sogar später erzählt, dass als die Mauern von Jericho einstürzten, die Israeliten mit Erstaunen sahen, dass zwar die gesamte Stadtmauer eingestürzt war – nur ein kleiner Teil nicht: der Teil, wo das rote Seil an Rahabs Fenster befestigt war. Die Lektion des Glaubens und des Vertrauens galt nicht nur Rahab und ihrer Familie, sondern auch Josua und den Israeliten.
Mitten in der Lebens-Angst zeigt Rahab ein ganz menschliches Gesicht. In einer Welt voll fragwürdiger Moral, Hinterhältigkeit, Betrug und Brutalität sehen wir hier Menschen, die miteinander einen Treue-Pakt schließen. Am Ende schwören die Spione einer Hure, dass sie sie und ihre Familie schonen werden. Und der Pakt hält.
II.
So spannend diese Rahab-Erzählung auch ist, auf eine Frage gibt sie keine Antwort: Warum lässt Gott überhaupt Kriege zu, Grausamkeit, Verrat, Zerstörung und Hinterhalt? Aber gerade hier kommen uns doch Zweifel auf. Was ist an dieser Geschichte gut, die doch den Beginn eines Krieges gegen Jericho markiert?
Heute liegt Israel in einem mörderischen Krieg mit der Hamas. Beim Angriff der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf israelisches Staatsgebiet am 7. Oktober 2023 kamen rund 1.200 israelische und ausländische Menschen zu Tode. Mehr als 5.431 Menschen wurden verletzt. Heute noch befinden sich 47 Geiseln in der Gewalt der Hamas.
Durch Angriffe des israelischen Militärs nach dem Überfall der Hamas sind rund 67.000 Menschen gestorben, rund 169.000 wurden verletzt[2]. Im Westjordanland sind seit dem 7. Oktober 2023 insgesamt 984 palästinensische Todesopfer und 9.916 Verletzte zu beklagen. Der Großteil der Toten und Verletzten im Westjordanland ist durch israelische Soldaten getötet worden, eine kleine Zahl durch israelische Siedler.
Angesichts dieser Zahlen und des unendlichen, humanitären Leides der Bevölkerung im Gaza-Steifen gefriert unser anfängliches Lächeln über das geschickte Taktieren der Rahab, die Überlistung der Kanaaniter und den anschließenden Erfolg der Israeliten in Jericho.
Heute wird kein Krieg mehr mit List und Täuschung gewonnen, sondern mit brutaler Gewalt und dem unmenschlichen Blockieren von Nahrungsmittellieferungen und medizinischer Hilfe. Vor dem Hintergrund dieser grauenhaften Geschehnisse fragen wir uns natürlich: Was sollen wir heute anfangen mit der Geschichte Rahabs und ihrer List?
Dass zwei Spione und eine Prostituierte einen Pakt schließen, und dadurch eine ganze Familie gerettet wird, mag ja schön klingen – aber was ist mit den tausenden Familien, die auseinandergerissen und ausgelöscht werden?
Dass Rahab als die Retterin des israelitischen Volkes später sogar so berühmt wurde, dass sie im Jakobusbrief als „Gerechte“ (Jak 2,25) und im Hebräerbrief als „Gläubige an einen fremden Gott“ (Hebräer 11,31) gepriesen wird – ja dass sie über alldies auch noch als eine der wenigen Frauen im Stammbaum des Königs David geführt wird (Mt 1,5) – das alles täuscht nicht darüber hinweg, dass heute keine Kriegslist mehr Leben rettet. Wir sind heute mit einer weitaus schlimmeren Art und Weise Krieg zu führen konfrontiert: mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, roher und rücksichtsloser Gewalt.
III.
Sollten wir deshalb die Geschichte der Hure Rahab einfach beiseite schieben und ablegen unter die Rubrik „schöne alte Legenden“? Oder können wir aus dieser Geschichte auch für unser eigenes Leben Erkenntnisse gewinnen? Ich denke ja.
1. Es lohnt sich immer, wenn wir Kraft und Ideen dafür einzusetzen, dass es anderen Menschen gut geht. Ob es unsere eigene Familie ist, ob es Fremde sind, die bei uns Zuflucht suchen, – Liebe und Gastfreundschaft sind Gaben, die nie umsonst verschenkt werden. Es ist nicht nur unsere Christenpflicht, sondern auch unsere Menschenpflicht, anderen zu helfen, wenn sie in Not sind.
2. Rahab hat es geschafft, in den Stammbaum Jesu beim Evangelisten Matthäus zu kommen. Sie ist gewissermaßen eine Urgroßmutter Jesu. Sie steht im Stammbaum dessen, der Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe in den Mittelpunkt seines Redens und Handelns stellt.
Wer ihm nachfolgt, folgt auch Rahab nach und all denen, aus deren Wurzeln Jesus stammt. Zu dieser Familie gehören auch wir, zu den Schwestern und Brüdern Jesu. Und das sei uns eine Verpflichtung: Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. (Philipper 2,5.3.4).
3. Trotz aller unserer Lebensangst, trotz unseres Kummers um unsere bedrohte Schöpfung und trotz aller Sorge um den Frieden – gerade auch im Nahen Osten –, müssen wir uns immer wieder sagen: Vertrauen in Gott wird belohnt.
Mag es auch so aussehen, dass die Sanftmütigen, die Friedfertigen und die Hilfsbereiten im Konzert der Großen und Starken den Kürzeren ziehen: Am Ende werden nicht die Großen und Starken, die Kriegstreiber und Kriegsverbrecher vor Gott Gnade finden, sondern die, die mitten in der Angst, mitten im Unfrieden ein warmes Herz behalten und helfende Hände.
Deshalb wollen wir auch nicht nachlassen zu hoffen, zu lieben und zu beten. Am Ende wird der Friede Gottes uns gehören. Und denen, die mit uns gekämpft haben – um Liebe, Menschenfreundlichkeit und um Frieden.
[1] Dieses Zitat stammt aus dem Film „Frauen sind doch bessere Diplomaten“ (mit Marika Rökk, 1942).
[2] Die Zahlen zu den Todesopfern und Verletzten beruhen laut UNOCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) auf den Angaben der einzelnen Kriegsparteien und individuellen Zählungen. Grundsätzlich muss bei Statistiken aus dem unmittelbaren Kriegs- und Konfliktgeschehen beachtet werden, dass eine objektive Zählung häufig kaum möglich ist und auf Schätzungen zurückgegriffen werden muss. Gleichzeitig nutzen die unterschiedlichen Konfliktparteien immer wieder Zahlen und Daten selektiv für Ihre eigenen Interessen.