Therapieempfehlung
Christlicher Glaube sucht das Gespräch mit denen, die nicht glauben, und mit denen, die anders glauben
Predigttext | 1. Petrus 3,8-17 |
---|---|
Kirche / Ort: | Christuskirche / Karlsruhe |
Datum: | 01.07.2012 |
Kirchenjahr: | 4. Sonntag nach Trinitatis |
Autor: | PD Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: 1. Petrus 3,8-17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Endlich aber seid allesamt gleich gesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt. Denn »wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der hüte seine Zunge, dass sie nichts Böses rede, und seine Lippen, dass sie nicht betrügen. Er wende sich ab vom Bösen und tue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach. Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun« (Psalm 34,13-17). Und wer ist's, der euch schaden könnte, wenn ihr dem Guten nacheifert? Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch nicht vor ihrem Drohen und erschreckt nicht; heiligt aber den Herrn Christus in euren Herzen .Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung , die in euch ist, und das mit Sanftmut und Gottesfurcht, und habt ein gutes Gewissen, damit die, die euch verleumden, zuschanden werden, wenn sie euren guten Wandel in Christus schmähen. Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, dass ihr um guter Taten willen leidet als um böser Taten willen.“
Die junge Sprechstundenhilfe führt den Patienten, Herrn Werner Müller, ins helle und große Sprechzimmer. Der Arzt, Dr. Koch, trägt einen weißen Kittel und um den Hals ein Stethoskop. Er steht auf, schüttelt dem Patienten freundlich die Hand und bittet ihn, auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen. Der Arzt fragt nach dem Grund des Besuchs, und er lässt sich die Geschichte der Beschwerden erzählen. Egal welcher Art die Beschwerden sind, irgendwann wird Dr. Koch seinen Patienten untersuchen und ihm mit einer Manschette den Blutdruck messen. Dieser Blutdruck darf nicht zu hoch und nicht zu niedrig sein. Niedriger Blutdruck macht müde und schlapp. Hoher Blutdruck schadet den Arterien und kann zu Herzinfarkten und Schlaganfällen führen. Ein schlechter Wert gibt einen Hinweis, dass mit der täglichen Lebensführung etwas nicht stimmt. Dagegen helfen eine andere fettarme Ernährung, mehr Bewegung und im schlimmeren Fall ergänzend auch Tabletten. Der Arzt erklärt Herrn Müller ausführlich und geduldig, was er selbst gegen den erhöhten Blutdruck tun kann. Herr Müller, der Patient, der unter Übergewicht leidet, muss selbst entscheiden, ob er den Ratschlägen Folge leistet.
Was wir gerade als Predigttext aus dem 1.Petrusbrief hörten, ist ebenfalls eine Art Therapieempfehlung. Im lebenswichtigen Blutkreislauf der ersten Gemeinden stimmte etwas nicht mehr richtig, und der Autor des 1.Petrusbrief verschreibt dagegen eine Therapie, die hauptsächlich aus Ratschlägen (und nicht aus Tabletten) besteht. Nun wehen diese Worte aus dem Abstand von neunzehnhundert Jahren in die Gegenwart herüber und suchen sich ihre eigene Aufmerksamkeit. Wir hören die Worte und staunen, fühlen uns vielleicht ein wenig zu sehr von Ratschlägen umstellt. Soll ich mir das alles merken? Noch mehr: Soll ich das alles umsetzen? Es verbirgt sich dahinter auch die bange Frage: Überfordert mich das nicht? Man kann in dem Autor des 1.Petrusbriefes die böse Schwiegermutter sehen, die ungewollt Ratschläge gibt, die das junge Paar auf keinen Fall hören will. Die Ratschläge wirken dann als Giftpfeile, die nicht auf ein besseres Leben, sondern auf Bevormundung zielen. Aber es gibt noch eine zweite Möglichkeit, diese Ratschläge aufzunehmen. Hören Sie die knappen Ratschläge einfach als den vorsichtigen Therapievorschlag eines geduldigen theologischen Arztes. Er empfiehlt, den geistlichen Blutdruck neu einzustellen. Diese Möglichkeit will ich weiter verfolgen.
Hilft uns der 1.Petrusbrief bei der Diagnose der Gegenwart des Christentums? Der Brief geht von einem Gegenüber zwischen Gemeinden und heidnischer, nicht-christlicher Umwelt aus. Die heutige Bundesrepublik ist wie die gesamte Europäische Union vom Christentum geprägt. In dieser engen Verbindung zwischen Christentum und Kultur sind Risse entstanden, die sich schnell vergrößern. Andere, nicht-christliche Religionen stellen sich auf dem Markt der Möglichkeiten laut und aggressiv dar. Das Christentum gerät dabei schnell in den Hintergrund. Die, die gar nicht an einen Gott glauben, organisieren sich in Verbänden und protestieren am Karfreitag gegen das Tanzverbot oder stellen sich am Sonntag vor die Eingangsportale, um für Kirchenaustritte zu werben. Viel Zulauf haben solche atheistischen Gruppen nicht, aber sie machen sich lautstark in der Öffentlichkeit bemerkbar und finden häufig das Ohr von Journalisten und Reportern. Provokation ist eben faszinierend.
Auf der einen Seite gehört dieses Nebeneinander und Durcheinander zum selbstverständlichen Zustand einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft. Religionsfreiheit ist ein hohes und wichtiges Gut. Mit den nicht hinnehmbaren Auswüchsen beschäftigen sich die Gerichte. Auf der anderen Seite ist oft zu beobachten, dass sich viele Menschen aus den christlichen Gemeinden über das zunehmende Nebeneinander von Religionen verunsichert fühlen. Die alte, vermeintlich selbstverständliche christliche Mehrheitskultur droht wegzubrechen. Es hilft nicht mehr, einfach die alten, bequem gewordenen Besitzstände mit allen Kräften zu verteidigen. Vielerorts machen sich Ratlosigkeit, eine gewisse Resignation und Fatalismus breit. Das geistliche Reden wird von dem Satz geprägt: Wir können es sowieso nicht ändern. Dieser Satz aber ist das Symptom einer Krankheit. Die Krankheit heißt zu niedriger geistlicher Blutdruck. Es drohen Erstarrung, Müdigkeit und Traurigkeit.
Der Autor des 1.Petrusbriefes schrieb an eine christliche Gemeinde, die in der Minderheit war. Diese glaubende Minderheit sah sich einer Mehrheit gegenüber, die das Christentum mit rhetorischen, strafrechtlichen und sozialen Mitteln bekämpfte, darunter Verleumdung, Folter, Ächtung, Denunziation. Dagegen lautet der erste Ratschlag aus dem Brief: Besinnt euch auf euch selbst. Oder nein, das ist nicht ganz richtig formuliert. Besinnt euch auf Jesus Christus. Oder wie es im Brief heißt: „(…) heiligt aber den Herrn Christus in euren Herzen!“ Besinnt euch darauf, dass ihr im Glauben nicht Kraft aus euch selbst schöpft! Kraft schöpft ihr aus dem, der in euch wirkt. Glaube ist ein Vertrauen nicht auf mich selbst, sondern auf einen anderen.
Wer als einzelner oder als Gemeinde in einem schwierigen Konflikt steht, der hat ja mehrere Möglichkeiten zu reagieren. Ich kann zurückschlagen. Ich kann auf den anderen um so stärker eindreschen. Ich kann all meine Gedanken und Gefühle auf diesen Feind konzentrieren, so sehr, bis ich ihm ähnlich geworden bin. Das finde ich hilfreich für die gegenwärtige Situation des Protestantismus in Deutschland: nicht dauernd auf die anderen blicken, auf deren Fehler, auf deren marktschreierisches Verhalten, sondern auf die eigenen Stärken und Kraftquellen vertrauen. Die Stärke des Glaubens ist der Christus im Herzen. In der letzten Woche hielt die Kulturbeauftragte der EKD in Karlsruhe eine bemerkenswerte Rede, die mit folgenden Sätzen schloss: „Das beste Argument gegen den kämpferischen Laizismus ist ein lebendiges Christentum, das sich nicht abschließt in kirchliche Kreise oder beleidigt auf seine Bestände pocht, sondern geistliche Phantasie entwickelt für den Umgang mit den entfremdeten Milieus der Eliten wie der Ränder der Gesellschaft (…) Da mag bisweilen auch ein wenig Traurigkeit herrschen angesichts der veränderten Rolle, die die Kirchen möglicherweise erst noch finden müssen. Doch in den härter werdenden Auseinandersetzungen sind die geistlichen Tugenden, von denen der Barockdichter Paul Gerhardt singt, Haltungen in haltlosen Zeiten. Wie sagt er es? ‘Gelassen und unverzagt.’“ Gelassen und unverzagt – ohne Ausrufezeichen dahinter. Man könnte mit dem 1.Petrusbrief ergänzen: auf gleicher Augenhöhe, mitleidend, geschwisterlich, barmherzig und demütig.
Ihre große unaufdringliche Stärke gewinnt die Gemeinde aus der Besinnung auf Grund, der sie trägt. Die Arbeit in der Gemeinde hat nicht zum Ziel, sich von der Welt abzuschließen und „Strukturen“ zu erneuern, Akten zu archivieren und Verwaltung zu intensivieren, Effizienz zu steigern. Die Arbeit in der Gemeinde geschieht um Jesu Christi willen. Sie ist mit einem bestimmten Ziel verbunden. Es fällt auf in der Briefpassage, dass die meisten Ratschläge des Briefschreibers sich auf das Verhältnis der christlichen Gemeinde zur Um- und Außenwelt richten. „Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung (…)!“ Christlicher Glaube darf sich nicht verstecken. Er sucht das Gespräch mit denen, die nicht glauben, und mit denen, die anders glauben. An die selbstreferentiellen Pirouetten der allenthalben so beliebten „Strukturreformen“ ist dabei selbstverständlich nicht gedacht. Statt dessen sollten wir uns ohne missionarische Hektik bemühen, werbend für das einzutreten, was sich aus dem Evangelium Jesu Christi in zweitausend Jahren Kulturgeschichte entwickelt hat.
Das Evangelium stiftet Kraft, Gemeinschaft und Kultur. Es macht Sinn, wenn Menschen pro Woche gemeinsam einen Ruhetag einhalten. Es macht Sinn, wenn sie beim Hören der Friedensglocke mittags ein Gebet sprechen. Es macht Sinn, wenn Einkaufsläden an hohen Feiertagen geschlossen sind. Es macht Sinn, wenn nach dem Tod eines Menschen ein Trauergottesdienst stattfindet und sein Sarg oder seine Urne an einem bestimmten Ort bestattet wird, mit einem Kreuz oder einem Stein, auf dem sein Name steht. Es macht Sinn, alten, dementen und kranken Menschen pflegend und betreuend zu helfen, ohne nach dem Wert eines Menschen oder nach seinem Nutzen für die Gesellschaft zu fragen. Es macht Sinn, Jesu Botschaft von der gleichen Würde aller Menschen ohne Rücksicht auf Geschlecht, Rasse, Wissen etc. weiterzugeben.
Diese Reihe sinnvoller Botschaften wäre beliebig verlängerbar. Zusammengenommen ergibt das einen Schatz christlicher Kultur, den wir voller Freude, Vertrauen und Zuversicht werbend verteidigen sollten. Auf diese Weise nehmen Gemeinden und Kirchen ihre Verantwortung für die Gesellschaft wahr. Bevor ich den Gedankengang mit einem letzten dritten Schritt vollende, blicke ich auf die ersten beiden Schritte zurück. Der Glaube verlässt sich nicht auf eigene Leistungen, sondern auf den Christus im Herzen. Das ist der erste Schritt. Dieser gemeinsame Glaube richtet sich nach außen, auf die Menschen, die mit Interesse oder Gleichgültigkeit in die Gemeinde hineinschauen und denen wir Rechenschaft schulden. Der dritte und letzte Schritt lautet. Christen sind der Wahrheit und der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Offensichtlich war es in der christlichen Minderheitsgemeinde, an die der 1Petrusbrief sich richtet, anders. Es ist die Rede von Drohungen, Angsteinjagen und Verleumdungen. Dagegen ist das Wort gerichtet: Lasst euch keine Angst einjagen vor unseren Gegnern. Bleiben wir bei der Wahrheit, die wir in Christus gefunden haben. Sie heilt nicht nur uns selbst, sondern sie strahlt auch auf andere aus. Davon bin ich fest überzeugt.
Der 1.Petrusbrief rückt seine Aufforderungen in die Nähe des Jesu von Nazareth und vor allem in der Nähe der Bergpredigt. Dort sagt Jesus mit ganz schlichten Worten: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“. Mir gefällt dieser Satz in seiner ganzen Schlichtheit. All die Debatten und Diskussionen, wo endlos Worte gemacht werden, haben etwas an und in sich, das an ein leer und hohl laufendes Rad erinnert. Damit kommt niemand voran. Wir brauchen stattdessen die Worte, die uns aus Fatalismus und Gleichgültigkeit retten. Der Fatalismus sagt: Wir können sowieso nichts ändern. Die Gleichgültigkeit sagt: Was interessiert es mich, wenn niemand mehr glauben will? Der Glaube selbst sagt unverzagt und gelassen: Wir wollen darüber reden, ob wir nicht die Wahrheit finden können. Der Glaube jedenfalls kann sanft und unaufdringlich ein Angebot machen. Dann stimmt es auch wieder mit dem geistlichen Blutdruck, ganz ohne Beta-Blocker und Kalzium -Antagonisten.