Vor ein paar Wochen kam im Gottesdienst ein Mann zu mir und sagt: Können Sie mir einmal die Vaterunser-Bitte „Und führe uns nicht in Versuchung“ erklären. Ich war überrascht und hatte keine Antwort parat. Also sagte ich ihm: Ich werde mir Ihre Frage überlegen. Am heutigen Sonntag ist „Versuchung“ das Thema des Gottesdienstes. Also die Gelegenheit, sich damit zu befassen! Das Thema ist ja bereits durch das Evangelium vorgegeben. Wir haben die Geschichte von der Versuchung Jesu gehört. Ich glaube, diese Erzählung kennt wirklich jeder:
Wir finden Jesus in der Wüste. Vielleicht haben wir vergessen, dass ihn „der Geist“ dorthin geführt hat. Also hat ihn Gott selbst in die Wüste geführt. Er hat ihn also „in Versuchung“ geführt. Nach 6 (!) Wochen leidet Jesus unter dem Hunger. Wer könnte das nicht verstehen? Mit dem Hunger tritt der Teufel auf und Bilder von großer Kraft entstehen. Wenn wir Hunger haben, mögen auch wir von „besseren Zeiten“ träumen. Vielleicht ist ein Defizit auch wichtig für neue Ideen, Visionen, Träume …
Nun sollte man meinen, dass es heute keinen Hunger mehr gäbe, keine Defizite, keine Not. Wir sind versorgt. Das globale Netz unserer Welt versorgt uns rundum mit Daten, Nachrichten, Früchten, Konsumartikeln, Ideen. Und alles zeitgleich. Und ohne Filter. Ist es dies Filterlose, was uns weiter hungrig macht? Oder unzufrieden. Oder gierig? Die Umfragen zur Frage, ob wir satt und zufrieden seien, werden oft sehr subjektiv beantwortet. Denn: Gibt es einen objektiven Zustand von Sättigung und Zufriedenheit?
Also bleibt die Suche nach Mehr. Das wusste auch schon Gott im Paradies. Deshalb hat er dem Menschen gesagt, dass er alles benutzen und genießen kann, was die Welt ihm bietet – „aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du sterben!“ (Gn 2,17). Wir erinnern uns noch, dass die Versuchungen schon auf den Menschen gelauert haben. Und wir wissen auch, was dann erfolgt ist: der Mensch musste das Paradies verlassen. Fortan ist der Mensch „geworden wie unsereiner (also wie Gott) und weiss, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich …“ (Gn 3,22).
Der israelische Historiker Yuval Harari hat nun genau zu diesem Thema ein Buch geschrieben „Homo Deus“ und darin behautet, dass wir heute die technischen Möglichkeiten hätten, die Schöpfung neu zu formulieren. Ja, er geht über Jens Spahn hinaus, der ja plant, in 10 Jahren den CA beseitigt zu haben. Harari glaubt, dass der Mensch „auch vom Baum des Lebens (brechen) und essen und ewig leben“ könne. Er beschreibt den Menschen mit seinem Drang, die Grenzen des Wissens und der Machbarkeit fast bis ins Unendliche auszudehnen. „Alles ist machbar“ in Zeiten von Künstlicher Intelligenz (KI).
Und damit sind wir wieder bei Jesus in der Wüste und den Allmachtsphantasien – sind es wirklich nur Phantasien? -, die ihm der Teufel vor Augen führt. Auch Jesus ist verführbar. Auch Jesus war Versuchungen ausgesetzt. Er hat wie jeder Mensch in seinem Leben versucht, seine Grenzen auszuloten. Versuch und Irrtum gehören zum Leben. Wer nichts versucht, wer nicht mit eigenen Irrtümern umgehen kann, wird lebensuntauglich. An dieser Stelle kommt unser Predigttext, vielleicht ursprünglich ein Lied, ein Hymnus, zu seinem Recht.
(Lesung des Predigttextes Hebräerbrief 4,14-16)
Aus der Fülle dieser großen Bilder greife ich zuerst nur ein Wort heraus, das im griechischen Text genau in der Mitte steht: Versuchungen. Jesus, unser Vorbild, Christus, in dessen Namen wir getauft werden, Jesus Christus, der zur Rechten Gottes sitzt, der ist den Versuchungen und Verführungen genauso ausgesetzt wie wir Menschen. Er ist nicht nur menschlich gewesen, er war ein Mensch.
Doch nun kommt ein zweiter Gedanke: der Hebräer-Hymnus sagt, dass Jesus ohne Sünde sei. Wenn wir noch einmal an die Paradiesgeschichte denken, dann sehen wir die Menschen auf der Flucht. Sie wissen zwar, was gut und böse ist, sie sind „uns gleich“, wie es im Text heisst. Aber sie sind nicht mehr im Garten Gottes, sind nicht mehr in seiner Rufnähe. Sie sind „in Sünde“, also getrennt von Gott – so wie ein Sund die Insel vom Festland trennt. Eine einfache Begegnung mit Gott ist nicht mehr so ohne weiteres möglich. Auch tägliche Gespräche sind aufwändig. Gott ist oft abwesend. Wir Theologen sprechen dann vom deus absconditus und wissen eigentlich nicht viel mehr zu sagen, als dass Gott nicht mehr „at hand“ ist, zur Hand, gleich nebenan.
Von Jesus heisst es nun, dass er „ohne Sünde“ sei. Als ob es bei ihm keinen Sund gäbe zwischen ihm und seinem himmlischen Vater. An dieser Stelle ist das Bild von Jesus interessant, der die Himmel durchschritten, durchfahren, durchrissen hat. In unserem Glaubensbekenntnis heisst es sogar, dass er „hinabgestiegen sei in das Reich des Todes“, früher: „niedergefahren zur Hölle“, was in seiner Drastigkeit noch mehr Wahrheit und Wirklichkeit hat. Eins der schönsten Adventslieder formuliert es so: „O Heiland reiss die Himmel auf! Herab, herab vom Himmel lauf!“ Reiss ab vom Himmel Tor und Tür! Reiss ab, wo Schloss und Riegel für!“ Das sind gewaltige Bilder von höchster Gewalt!
Der Sund der Paradiesgeschichte, der grundsätzliche Abstand und Abgrund von Gott und Mensch soll überbrückt werden. Und Jesus, der Marien Sohn, hat diesen Sund überbrückt mit seinem Leben, seinen Taten, seinen Worten. Und was ist geschehen? Wieder ein Weihnachtslied: „Heut schleust er wieder auf die Tür zum schönen Paradies. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob Ehr und Preis!“
Jesus Christus hat alles versucht, um das Reich Gottes in diese Welt zu implantieren. Um den Sund zwischen Gott und Mensch zu überwinden. Und der Effekt? Nach den Evangelien: Menschen sind gesund geworden, haben einen neuen Sinn in ihrem Leben gefunden, sind lebendig geworden, sind zur Welt gekommen, sind Mensch geworden. Durch Jesus Christus werden wir Menschen.
Was tun? So kommen wir zum dritten Gedanken unseres Hebräer-Hymnus: Wir wollen uns aufmachen mit Freimut und Kühnheit zu seinem Thron der Freundlichkeit! Was für merkwürdige Wörter und archaische Vorstellungen! Doch wer nur ein wenig Netflix konsumiert, weiss um mythologische Bilder in den heutigen Filmen. Könige und Herrscher, Priester und Opfer, Burgen und Schlösser gehören zum normalen Inventar heutiger Filme. Also können wir uns auch einen „Gnadenthron“, einen „Thron der Freundlichkeit“ vorstellen, zu dem wir aufbrechen. Wir haben ein Ziel vor uns, ein Bild, ein Angebot.
Und wie gehen wir jetzt mit den Versuchungen, Herausforderungen und Verführungen um? Was können wir Yuval Noah Harris „Homo deus“ erwidern, der eine neue Schöpfung 2.0 auflegen will? Vielleicht kommen wir auf einen neuen Weg, wenn wir zwei bestimmte Wörter unseres Textes wahrnehmen: griechisch eleos und charis. Was ist eleos? Es steckt in dem „Kyrie eleison“ drin. Wir singen „Herre Gott, erbarme dich!“ Der neue Weg, den wir gehen, hat also mit Barmherzigkeit zu tun. Barmherzig ist doch der, der sich um den Andern kümmert. Wir kennen dies in der sog. diamantenen Regel: Behandle jeden so, wie er behandelt werden will! Also ist der Andere der Maßstab für mein Handeln – und nicht ICH. Können wir hier nicht einfach von Liebe sprechen?!
Was bedeutet das andere Wort: charis? Es bezeichnet das, was zwischenmenschlich Wohlbehagen bringt. Und wer möchte sich nicht (manchmal) behaglich fühlen? Also soll unser Verhalten geprägt sein von Liebe und Wohlbegangen. Und dies inmitten von KI und allen technischen Möglichkeiten, die wir ausprobieren und versuchen und die auch zu Versuchungen führen können. Jesu Leben war geprägt von Liebe und Wohlbehagen. Und er wusste sich aufgehoben, geborgen. Er hat seine Heimat „himmlischen Vater“ genannt, zu dem er immer wieder gegangen ist – in die Wüste, in den Tempel, in die Kirche.
Vielleicht ist das auch eine Möglichkeit für uns. Der Text unserer Predigtperikope legt es uns nahe: Lasst uns aufmachen mit Freimut und Kühnheit zu seinem Thron der Freundlichkeit. Und dann wieder in die „Welt“ mit ihren Aufgaben, Versuchungen und Möglichkeiten. Warum sollten wir besser sein als Jesus ;-)Also wie beim Atmen: Einatmen – vielleicht in der Stille, um sich klar zu werden, was gut ist und was böse ist – und ausatmen und sich in den Wind stellen, der ja nicht nur gefährlich ist, sondern uns auch vorwärts bringen kann z.B. wenn wir segeln.
Und die Vaterunser-Bitte „Führ uns nicht in Versuchung“? Die Versuchungen, auch in der Bibel, sind mit viel Leid verbunden. Sie haben Menschen von Gott entfremdet und können es immer wieder tun. Darum diese Bitte. Und wenn Versuchungen kommen, dann mag die Bitte hinzutreten, dass Gott bei uns ist in der Versuchung. Er war ja die ganze Zeit bei den Menschen im Paradies, war bei Jesus in der Wüste, war bei Hiob in seinem Leid. Aber dass ER sich zwischendurch zeige und mit uns spreche, das wollen wir IHN bitten im Namen seines Sohnes Jesus Christus.
Lieder
Von guten Mächten
O Heiland reiss die Himmel auf
Bewahre uns Gott
In dir ist Freude
Befiehl du deine Wege