Hörten wir im Evangelium von der Taufe unseres Herrn im Jordan, so bleiben wir auch mit dem Predigttext am Jordan, begeben uns aber an einen ganz anderen Ort. Taufort und Ort der Handlung unseres Predigttextes mögen 75 bis 100 Km auseinander liegen. Wir befinden uns im 13. Jahrhundert vor Christus.* Josua wurde Nachfolger des Mose. Er hatte in dessen große Fußstapfen zu treten. Aaron, der Hohepriester und Mitstreiter für Gottes Sache an Moses Seite, lebte nicht mehr. Josua war auf sich gestellt. Er ist nicht mehr der Jüngste. Das erleichtert die Übernahme von viel Verantwortung nicht. Die zwölf Stämme Israels befinden sich unmittelbar vor der Landnahme. Eine unglaubliche Aufgabe liegt vor Josua. Er wird es sein, der das eroberte Land an die 12 Stämme zu verteilen hat. – Das „Alte“ liegt hinter uns, ein Jahr ist vor elf Tagen zu Ende gegangen. Menschen, die uns im Glauben beigestanden und geleitet haben, sind hier und da nicht mehr unter uns. Es kommt auf uns an, uns allein, den von Gott gegebenen Auftrag zu erfüllen. Eine jede und ein jeder ist „Josua“. –
Das Volk nähert sich dem Fluss, der seit alters die natürliche Grenze zwischen dem Ost- und Westjordanland bildet. Sie hatten offenbar vor, an einer bekannten Furt den Jordan zu überqueren. Er ist über seine Ufer getreten. Sie sehen an Stelle der Furt nur unüberwindliche Wassermengen. Die Älteren unter den Israeliten werden sich an eine vergleichbare Situation erinnert haben. Sie waren vor dem Pharao in Ägypten geflohen und standen vor dem Roten Meer. Vor sich die Wasser des Meeres, hinter ihnen die ägyptischen Reiter. Das Wasser vor ihnen bedeutete das Ende des Auszuges. Damals hatten sie Mose, jetzt aber den unerfahrenen Josua. Hochwasser bedeutet, dass man kann keinen Schritt weiter gehen kann. Am besten ist es, umzukehren und für die nächste Zeit alles zu vergessen. „Das war’s. Wir schaffen es nicht. Wir haben verloren.“„Hochwasser versperrte den Weg“ ist in der Schrift zum Bild geworden.
Wir kennen das. Es gibt eine gute Planung und Vorarbeit. Der Weg an das andere Ufer ist geebnet, die Furt zu neuen Horizonten kann begangen werden. Die Kräfte sind da. Freude auf das Zukünftige hat sich im Herzen breit gemacht. Dann kommt eine vernichtende Flut und reißt alles mit und weg. Eine Krankheit wird ein Hochwasser, das Träume dahinrafft. Eine Bewerbung, die mit viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft verbunden ist, ist wie weggespült? Eine Freundschaft wird unvorhergesehen ins Wanken gebracht. Misstrauen und Bequemlichkeit reißen die Säulen einer Beziehung dahin, auf denen alles stand. – Josua befiehlt den Priestern mit der heiligen Bundeslade in das Wasser des reißenden Stromes zu treten. Hoch aufgereckt soll sie vor den Israeliten an das andere Ufer gebracht werden. Das Volk hat zu folgen. Der Befehl des Josua klingt selbstmörderisch. Ist er einer von jenen neuen Anführern, die unfähig zur Umkehr sind und reißt nun alle mit in den Abgrund? „Kapitulation“ – aber nicht mit Josua? Als die Priester mit der Bundeslade und den goldenen Engeln darauf in den Jordan treten, geschieht das Unglaubliche. Von dem reißenden Fluss ist nichts mehr da geblieben außer einem sandigen Flussbett, über das Priester und Menschen nun das andere Ufer erreichen können Wie war das möglich?
Die Frage, ob Gott so etwas kann und macht, ist so alt, wie Menschen die Bibel lesen. Sie ist mehr oder weniger sinnlos. Wer kennt die Parameter Gottes? Altertumsforscher berichten, dass Verwandlungen des Jordan, wie hier geschildert, in gewissen Zeitabständen geschehen.** Der Hochwasser tragende Fluss braust von Norden heran und reißt vom Ufer Erdmassen weg, sogenannten Mergel. Sind die heraus gebrochen, kann es geschehen, dass sie als Damm auf dem Flussbett liegen. Der Lauf des Flusses stockt vor diesem Damm. Es fließt nichts nach. Die Wasser hinter dem Damm fließen südwärts ab. Christliche wie arabische Wissenschaftler schildern dieses Geschehen. War es damals so? Das ist natürlich eine reine Hypothese, die nur veranschaulichen kann, wie Gott im Rahmen der geltenden Naturgesetze das Wunder schuf. Den Verfassern dieser Erzählung geht es ganz und gar nicht um die Frage der Möglichkeiten des allmächtigen Gottes. Kein einziges Wort reflektiert dies. Es geht vielmehr bei diesem Geschehen um eine Erzählung vom Sieg über bedrängendes Wasser im Leben Israels.
Das diese Szene beherrschende Bild ist die voraus getragene Bundeslade. In ihr liegen die beiden Gebotstafeln, die Mose am Sinai empfangen hat, die Zehn Gebote. Der erste Satz auf den beiden Gebotstafeln heißt: „Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägypten, dem Haus der Sklaverei, herausgeführt hat” (Ex. 20,2 u. Dt. 5,6) – Was besagt: ‚Ich, dein Gott, will nicht, dass du ein Leben in Sklaverei führst. Ich will keine Versklavung unter Mächte jedweder Art. Ich möchte, dass du ein freier Mensch bist, ausziehst und weg gehst aus dem „Haus der Sklaverei“.’ Sahen die Priester und sah das Volk auf die Bundeslade mitten im reißenden Strom, sollte die Erinnerung an diesen ersten Satz vor allen Geboten vor ihren Augen stehen: Wir haben einen Herrn und Gott, der uns aus der Sklaverei herausführt. Wir werden auch in diesen Fluten nicht untergehen, werden nicht Sklaven der Naturmächte sein. Gott wird uns, wie auch immer, hier heraus führen.
Am Jahresanfang bekommen wir gesagt, dass wir in allen Fluten des Lebensstromes mit dem Volk Israel auf die Bundeslade sehen sollten. „Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägypten, dem Haus der Sklaverei, herausgeführt hat.“ Die Wahrheit dieses Satzes wird hier in dieser Erzählung mit der Errettung vor den Fluten des Jordan belegt. Wir werden im neuen Jahr möglicherweise in eine Situation geraten, wo wir „schlimme Wasser“ vor uns haben und hindurch müssen. Zurück geht nicht, weil das Rückfall in irgendeine Bindung und Abhängigkeit wäre. Rechts und links umherzuirren, nach einer „Furt“ zu suchen, bringt nichts und wird nach einer Zeit mit Resignation enden. Die Schrift sagt uns: Er, der Menschen aus dem Sklavenhaus führt, zieht mit uns mit. Wie er uns ein Wunder vom „Jordan“ schenkt, wissen wir nicht. Es kann einfach sein, ungeahnte Kraft zu empfangen, die Wasser auszuhalten, in den Strudeln nicht zu versinken und irgendwie das Ufer zu erreichen, das Leben bedeutet. Er ist aber mit uns.
Im Jahr 1910 verstarb Friedrich von Bodelschwingh, genannt „Vater Bodelschwingh“, er hinterließ ein segensreiches Erbe.*** Er hatte die „Betheler Anstalten“ aufgebaut, wo bis heute Obdachlose aufgenommen und psychisch Kranke gepflegt werden. Er gründete außerdem die Diakonissenmutterhäuser „Sarepta“ , die Diakonissenschule der „Ravensberer Schwestern“, die Diakonenausbildung „Nazareth“ und nicht zuletzt die Theologische Hochschule in Bethel. Wer sollte dieses Werk weiter führen? Die Entscheidung fiel auf seinen jüngsten Sohn Friedrich, den man später einfach „Pastor Fritz“ nannte. Er hatte weder die Statur noch die Lebens- und Glaubenserfahrung wie sein Vater. Sieben Jahre später, zum 50. Jahrestag der „Bielefelder Anstalten“ in Bethel, sagt er noch in dem Jubiläumsbericht der „Betheler Anstalten“: „Ein solches Lebenswerk zu gründen, ist gewiss nicht leicht, es zu erhalten, ist viel schwerer”. Als 1939 Hitler den geheimen Befehl heraus gab, Kranke und Behinderte zu töten, stand Pastor Bodelschwingh wie vor einem reißenden Strom, der tausende von Menschen dahinraffen sollte. Alles, was sein Vater aufgebaut und er weiter erhalten und gemehrt hatte, drohte im Orkan eines nationalen Wahns unterzugehen.
Friedrich von Bodelschwingh hatte 1934 die Barmer Erklärung mit heraus gegeben. Sie beginnt mit dem Satz: „Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, dem wir in Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Das war sein Glaube, den er in seinem Elternhaus erworben hatte. In Jesus Christus leuchtete ihm das Antlitz des Gottes Israels entgegen. Es war der Gott Josuas, der sein Volk nicht untergehen ließ, sondern vor den „Wassern“ rettete. Das war seine „Bundeslade“, die ihm vor Augen stand. Der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus ist auch mein Gott und wird die mir Anvertrauten nicht untergehen lassen, sondern nur an ein anderes Ufer führen. So kämpfte und kämpfte er um das Leben der ihm Anvertrauten, deren Zahl in die Tausende ging. Er schaltete Regierungsstellen ein, nutzte seine Kontakte zum Reichsinnenminister Kerll, taktierte, holte Gegengutachten zu erfolgten Gutachten ein und arbeitete sich schließlich bis zum Leibarzt von Hitler, Karl Brandt, durch. Das Unglaubliche geschah: Die Betheler Patienten und Heimbewohner blieben verschont.
Das war ein einzigartiges Wunder, hält man sich die sonstige Unnachgiebigkeit Hitlers und seiner Gefolgsleute vor Augen. „Pastor Fritz“ starb am 4. Januar 1946. Sein 69. Todestag war am letzten Sonntag. Geblieben ist sein Werk und geblieben ist für uns sein Glaube: Wer diesen Gott vor Augen hat, der uns aus dem Sklavenhaus heraus führt, wird nicht untergehen, auch wenn das bedeutet, auf ein unerklärbares Wunder zu hoffen.
Literaturhinweise
* Bibellexikon, hg. v. Herbert Haag, Einsiedeln 1969, S. 885.
** Kurzes Bibelwörterbuch, hg. v. D.H. Guthe u. a., Tübingen u. Leipzig 1903, S. 330 ff.
*** Jochen-Christoph Kaiser, Bodelschwingh, 1. Friedrich, v. (d. Ä.) und Matthias Benad, 2. Friedrich v. (d.J.), in RGG (4.Aufl.), Sp.1658 ff.., Tübingen 1998 und Das Bildnis des evangelischen Menschen, hg. v. Heinrich Bartsch u.a., Berlin 1960, S. 192 und 244.